Er war arm, so arm man nur sein konnte. Was er besaß, trug er bei sich. Einen Koffer, eine abgewetzte Ledertasche, die einst zu den eleganteren ihrer Art gehörte und daher, soviel ist anzunehmen, kostbarere Dinge als die Habseligkeiten eines Landstreichers, ja, man konnte ihn so nennen, in sich barg.
Etwas aber unterschied ihn von den übrigen Menschen, die, so sagt man wohl, ein Leben am Rande der Gesellschaft fristen. Die von kleinen Zuwendungen Vorbeieilender leben. Vorbeieilende, die kaum einen Blick übrigen haben für die, deren Kasse sie durch ein paar Münzen aufbessern, wohl eher um ihrem Gewissen zu suggerieren, etwas Gutes getan zu haben, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, an wem sie es getan haben. Nichts verletzte ihn mehr, als wenn man ihm achtlos etwas zuwarf. Ihn mit mitleidigen Blicken bemaß. Ihn gar einen Bettler nannte. Sie, auf die diese Abstraktion zutraf, hatten längst kapituliert vor jedem Maß an Ehrgefühl, Stolz und Selbstachtung.
Nicht so er. Er ging aufrecht in den Tag, wenn er seine Habe allmorgendlich zusammenklaubte, in seinen Behältnissen verstaute und den Ort verließ, an dem er die Nacht verbrachte. Sein erster Weg führte meist Richtung Bahnhof. Dort in die Örtlichkeiten, die für gewöhnlich zahlenden Nutzern vorbehalten waren. Er wechselte ein paar Worte mit dem Aufsichtspersonal, das ihn, den täglichen Gast, längst kannte und wurde schließlich durchgewunken ohne die übliche Gebühr entrichten zu müssen. Keinesfalls betrachtete er dies als Geste, die ihm aufgrund seines sozialen Status zuteilwurde. Natürlich hätte er zahlen können. Doch die unentgeltliche Nutzung der Einrichtung war ihm als Person zugedacht. Ihn, den man kannte. Den man schätzte.
Am Waschtisch schließlich legte er seine Kleidung ab, faltete diese sorgfältig. Entnahm seinen Taschen Wasch-, Rasierutensilien und Kamm und begann sein tägliches Ritual der Verwandlung zu einem durchaus achtbaren Menschen, dem man nicht zwangsläufig einen Randplatz der Gesellschaft zuweisen würde.
Das Ritual vollzog sich weiter mit dem Putzen pedantisch gepflegter, schwarz-brauner Halbschuhe, dem Anlegen eines Anzugs, der, zugegeben, nicht nach neuestem Schnitt gefertigt war, dem Binden einer Krawatte, die eine Krawattennadel zierte, welche von einem anderen Nutzer dieser Einrichtung versehentlich liegen gelassen worden war. Nichts fand größeres Unverständnis bei ihm als die unachtsame Handhabung von Werten, wenn er hin und wieder auch davon profitierte.
Abschließend verstaute er seine Sachen, musterte sich ein letztes Mal im Spiegel und verließ den Ort seiner wundersamen Wandlung. Niemand hätte vermutet, dass der, der noch vor wenigen Augenblicken ins Kellergeschoss des Bahnhofs hinabstieg, derselbe war, der nun wieder hinaufkam.
Von nun stattlicher Erscheinung, nicht zuletzt durch seine physischen Merkmale, groß von Wuchs, den Kopf ein wenig distinguiert erhoben, trat er, behäbigen, gemessenen Schrittes seinen Spaziergang in Richtung der großen Boulevards der Stadt an, in der er lebte. Charakterisiert anhand der erwähnten Attribute, die er zuweilen noch durch Hut und Schirm, den er in der Armbeuge trug, ergänzte, schien er ein wenig aus der Zeit gefallen, doch war dieses keinesfalls als Selbstinszenierung gedacht. Genau dies entsprach seinem Naturell. Seinem Wesen.
Er sah sich als Statist im Schauspiel des Alltags, als Komparse eines Stückes, dessen unverzichtbarer Teil er war, mit dessen Inhalt und Dramaturgie er sich jedoch immer weniger arrangieren konnte. Zwar begegnete er, der Großstadtflaneur, der Philanthrop, dem Alltag in beharrlicher Konsequenz mit einem steten Lächeln, mit freundlichen Gesten, mit Hilfsbereitschaft, mit Liebe, wie er sie verstand, doch wurde diese immer seltener erwidert. Reflektierte diese sich immer weniger in der Rastlosigkeit, dem Lärm, nicht nur im akustischen Sinne, der Geringschätzung, dem gedankenlosen Konsum, die den Alltag kennzeichneten.
Er sah, und dies im besten Sinne des Wortes. Er las in Mienen die Traurigkeit. In Augen die Leere. In Persönlichkeiten die Unpersönlichkeit. Das Abbild dessen, was man sein sollte, um dazuzugehören, nicht aber das Individuum. Den Selbstwert. Den Tiefgang, der einen Menschen nach seiner Maßgabe erst ausmacht und der sich nicht vordergründig am Besitz und Status bemisst.
Hätte es nicht Augenblicke gegeben, in denen er seinesgleichen begegnete, dies geschah in Gestalt des Kaffeehauskellners, der ihn spontan zu einem Kaffee einlud, eines Vorübergehenden, der seinen Blick, sein Lächeln suchte wie er den seinen, dem Coiffeur, bei dem er sich allwöchentlich frisieren ließ, was dieser mit einem philosophischen Plausch, der über das Maß an Zeit hinausging, das jeder investieren konnte, honorierte, dem Kioskbesitzer, der ihm hin und wieder ein Vortagsexemplar einer Tageszeitung überließ, deren Inhalte er dann durchaus kontrovers, bei weitem nicht immer versöhnlich, mit jenem diskutierte, er wäre früher oder später dieser Traurigkeit anheimgefallen, wäre ein Teil dessen geworden, dem er sich so kategorisch entgegenstellte.
Wenn der Tag sich dem Ende neigte, wenn der Lärm sich legte, der Rhythmus der Großstand ein wenig verhaltenere Töne anzuschlagen begann, ging auch sein Tag mit dem Aufsuchen des Ortes, an dem er begann, zu Ende.