Ich bin auf
meinem Weg manchen Menschen begegnet, die eine Spur in meinem Leben
hinterlassen haben. Manchen habe ich in meinen Geschichten ein
persönliches Denkmal gesetzt. So dem, den ich nur als „Ihn“
bezeichnete, der eine besondere Position unter diesen Weggefährten
einnahm.
Dem Obdachlosen, der mehr Würde besaß als manch anderer in der Mitte unserer Gesellschaft, dem dieses bittere Los nicht zuteil ist. Aber auch scheinbar unauffälligen Persönlichkeiten wie Kafka, der freilich nicht Kafka hieß. Ich habe ihn so genannt, weil er sich auf sehr besondere Weise von den übrigen Menschen des Ortes, an dem ich ihm immer wieder begegnete, unterschied. Nicht unerwähnt bleiben soll der einsame junge Mann, den ich im Wartezimmer meiner Hausarztpraxis traf, und kurz darauf ein zweites Mal auf einer Parkbank, auf der er, buchstäblich ins Nichts starrend, saß. Wir kamen spontan ins Gespräch, wobei es mehr ein Monolog seinerseits war, und ich erfuhr das Profil eines Lebens.
Aber auch skurrile, zuweilen amüsante Begegnungen gab es, wie die Dame mit dem Hündchen - Tschechow wird mir verzeihen, dass ich mich seines Titels bediene - der Tiere offenbar näherstanden als Menschen. Ich bin ein Geschichtensammler. Ein Sammler von Eindrücken und Emotionen, die diese in mir hinterlassen.
Vor einigen Tagen nun ergänzte sich der Fundus meiner Begegnungen mit für mich besonderen Menschen um eine weitere Episode. Ein liebgewonnenes Ritual meinerseits ist es, früh morgens, etwa zum Zeitpunkt kurz nach Sonnenaufgang, eine Stunde im nahegelegenen Schlosspark spazieren zu gehen. Ich nenne es meine Philosophenrunde. Nicht, dass ich mich als solcher sehe, aber die Atmosphäre, die Stille des Parks, die wenigen Menschen, denen man um diese Zeit begegnet, lassen meine Gedanken fließen. Ich gelange zu mancherlei Erkenntnis, die mir im Getriebe des übrigen Tages vielleicht nicht präsent wäre. Bisweilen führe ich Selbstgespräche, unterhalte mich gedanklich mit einer imaginären Person, rezitiere Gedichte oder kurze Passagen aus der Literatur, die mir spontan in den Sinn kommen und denke darüber nach, ob ich durch dieses Verhalten mittlerweile selbst zu so einer absonderlichen Gestalt avancierte, wie ich sie in meinen Geschichte zu beschreiben suche.
Er stand mir abgewandt am Wegrand, in die aufgehende Sonne blickend. Ein älterer Herr, der weder durch seine Kleidung, noch durch irgendetwas anderes, das ihn ausmachte, auffiel. Er war nicht besonders gepflegt. Unscheinbar sollte man vielleicht sagen. Niemand, der auffiel. Niemand, der auffallen wollte. Vielleicht sind es gerade diese Menschen, die meine Aufmerksamkeit erregen. Die, die sich nicht inszenieren, sei es durch eine besondere Kleidungsstil, sei es durch Gesten und Verhalten. Er stand dort. War einfach nur da. Nichts weiter.
Ich habe es mir zu Gewohnheit gemacht, Blicke, Augenkontakt zu den mir begegnenden Menschen zu suchen. Nicht starr und indiskret, aber auf eine sehr persönliche Weise. Ein „guten Morgen“ im Vorübergehen, ein mildes Lächeln. Mehr nicht. Ich war noch einige Schritte entfernt, als ich beschloss, ihm einen guten Morgen zu wünschen, obwohl, wie gesagt, er mir den Rücken zuwandte.
Ihn erreichend, meinen Gruß an ihn sendend, drehte er sich um, lächelte und erwiderte mit den Worten: „Was für ein wunderbarer Morgen“, die er im weiteren Verlauf dieser flüchtigen Begegnung noch mit einigen Floskeln ergänzte. Ich blieb stehen, antwortete meinerseits auf seine Worte mit eher nichtssagenden Äußerungen, wünschte ihm einen schönen Tag und setzte meinen Weg fort.
Dem Leser mag nichts Besonderes an dieser Szene auffallen, doch meine Gedanken ließen nicht ab von ihr, denn diese kurze, zunächst vielleicht banale Begegnung löste in mir gute Laune aus. Zum besseren Verständnis muss ich ergänzen, dass dieser Tag für mich keinen sehr freudigen Beginn hatte. Der Grund für meine leichte Betrübnis soll hier aber nicht von Bedeutung sein.
Die Begegnung beschäftigte mich noch eine ganze Weile auf meinem Spaziergang. Ich war schon ein erheblichen Stück Weg von ihm entfernt, als ich mich nochmal zu ihm umdrehte. Auch er hatte gemessenen Schrittes seinen Weg fortgesetzt. Schien im Moment, da meine Augen ihn fanden, auch zu mir zu herüberzuschauen.
Ich machte mir keine Gedanken darüber, wer er war, woher er kam oder wohin er gehörte. Nicht über seinen sozialen Status, der, bemisst man diesen an allgemeinen bürgerlichen Maßstäben, nicht sehr hoch zu sein schien. Lediglich darüber, dass mir diese kurze, flüchtige Begegnung ein nachhaltiges Lächeln ins Gesicht zauberte. Eine Begegnung zweier Menschen im Park. Eine Geste der Freundlichkeit. Des einander Sehens zweier Menschen, die nichts weiter verband als die Freude am Augenblick des Sonnenaufgangs.
Ich näherte mich dem Ausgang des Parks, suchte ihn abermals, denn der Park ist um diese Jahreszeit von jeder Position aus in seiner vollen Ausdehnung zu überblicken, doch er war verschwunden. Hat er seinen Weg nicht weiter fortgesetzt? Hat er den kürzeren Weg zum Ausgang genommen...
oder gab es ihn gar nicht. War er nichts als ein Trugbild, das die Sehnsucht des Herzens, die Sehnsucht der Gedanken in mein Bewusstsein projizierte?