Es ist der 19. Februar 2020. Der Tag, der durch ein Verbrechen ungeheurer Dimension eine mittelhessische Stadt untrennbar mit diesem Ereignis in Verbindung belassen wird. Neun junge Menschen verlieren ihr Leben durch die Tat eines rechtsnational orientierten Mannes, eine weitere, weitgehend unbeteiligte Person, die Mutter des Täters und schließlich er selbst, bilden das Ende der Kette dieser Blutnacht.
Die Folgen für die Hinterbliebenen der Opfer, die Verletzten und Zeugen: lähmendes Entsetzen und Leid, das kaum in Worte zu fassen ist. Fragen, die keine Antwort finden.
Seit am 6. Dezember 1990 der Angolaner Amadeu Antonio Kiowa im brandenburgischen Eberswalde ermordet wurde, in Folge dessen sich die Amadeu Antonio Stiftung gründete, deren selbst gestecktes Ziel es ist, Rechtspopulismus und rechte Gewalt zu bekämpfen, verzeichnet diese bis zum heutigen Tag 213 rechts motivierte Todesfälle. Allein im Jahr 2020 registrierten die Strafverfolgungsbehörden des Bundes und der Länder 15.000 Gewaltdelikte von rechts. Im Jahr davor waren es mehr als 21.000 Vergehen, und, ich will diese nicht außer Acht lassen, allein um den Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen, auch rund 6.500 Taten linker und linksautonomer Gewalt. Soweit die nüchternen Zahlen einer Bilanz, die alles andere als ein Ruhmesblatt für dieses Land darstellt. Tätliche Gewalt, unabhängig gegen wen sie sich richtet, unabhängig, was ihre Motive, seien sie nun gesetzlich legitimierter Grundlage, seien sie ideeller oder ideologisch verblendeter Natur, kann und darf nie ein probates Mittel zur Durchsetzung der jeweiligen Ziele sein.
Die Hinterbliebenen der Opfer quälen Fragen, auf die es keine Antworten gibt. In ihrer Verzweiflung suchen sie nach Schuld auf Seiten der staatlichen Gewalt, was angesichts der Umstände, es wurden Fehler gemacht, Nachlässigkeiten begangen, nachvollziehbar ist. Man denke nicht zuletzt an vergleichbare Verbrechen, im Besonderen zu nennen die Taten des NSU-Trios, das über einen Zeitraum von 10 Jahren ungehindert mordete und raubte, obwohl es viele Jahre unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand. Man denke weiter an den Sachverhalt, dass Rechtsnationalismus durch den Einzug entsprechender Parteien und Gruppierungen in die Parlamente von Bund und Ländern längst wieder zur Salon-Kultur avancierte, weil diese unter dem Deckmäntelchen demokratischen Grundverständnisses geduldet werden müssen.
Mehrere Verfahren zum Verbot rechter Parteien scheiterten im Laufe der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik, zuletzt das Verfahren gegen die NPD, weil, soweit ein Teil der Begründung „ … es keinerlei Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele …“ gab. Eindeutige Agitation pro Gewalt, wenn auch rhetorisch geschickt artikuliert, scheint hierunter nicht zu fallen. Volksverhetzung unter Anwendung von Begriffen finsterster NS-Terminologie ebenso wenig. Die Folgen schlagen sich in benannten Zahlen nieder. Lediglich zweimal in der Geschichte der BRD konnte ein Parteiverbotsverfahren durchgesetzt werden. Und zwar 1952 gegen die SRP, die als Nachfolgepartei der NSDAP galt, und einige Jahre darauf gegen die KPD, der man, man möchte es kaum für möglich halten, Volksverhetzung vorwarf, da ihre Ziele der „Förderung der Unterdrückung des Individuums“ als unvereinbar mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung galten.
Vor dem Umstand aber, dass eben diese Zahnlosigkeit, dieser selbst angelegte Maulkorb staatlicher Organe, zur Stärkung rechtsnationalen Geistes und dem, was die Folge ist, führt, senkt man den Blick und verharrt in Untätigkeit. Die Konsequenz daraus erlebten wir in der Vergangenheit, in der Gegenwart und werden sie, sofern sich nichts ändert, wohl auch in der Zukunft erleben.
Aber vielleicht ist die Schuld nicht allein in dem Beschriebenen zu suchen. Vielleicht ist es auch die zunehmende Anonymisierung der Gesellschaft. Das Wegschauen. Eine Familie lebt in der Mitte der Gesellschaft im bürgerlichen Idyll einer Reihenhaussiedlung am Rande der Stadt. Eine Familie, hinreichend bekannt für ihre Gesinnung. Es gibt Waffen im Haus. Der Sohn des Hauses, verhaltensauffällig seit Jahren. In einschlägigen Kreisen sozialer Netzwerke präsent. Hätte man reagieren müssen? Die Aufmerksamkeit der Behörden auf diesen Umstand lenken müssen? Ich glaube, wir alle sollten uns die Frage stellen, welchen Anteil an Schuld wir selbst tragen an derartigen Entwicklungen. „Was geht es mich an?“ ist sicher keine angemessene Reaktion.
In den Tagen und Wochen nach der Tat hat sich eine ungeheure Welle der Anteilnahme und der Solidarität gebildet, die weit über die Stadt- bzw. Landesgrenzen hinaus spürbar war. Solidarität aber sollte nicht erst einsetzen, wenn Katastrophen wie diese geschehen sind. Solidarität mit Ausgegrenzten, mit Schutzbedürftigen und Minderheiten kann solchen Entwicklungen auch entgegenwirken. Das sollten wir uns zum Ziel setzen. Jeder von uns.
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