So die etwas überspitzt
formulierte Äußerung eines Kabarettisten und Satirikers vor einigen
Jahren zum Thema Gedenkkultur. Tatsächlich vergeht kaum ein Tag,
ohne dass nicht an irgendeine Begebenheit, oder eine mehr oder
weniger namhafte Persönlichkeit im Zusammenhang mit Jahrestagen von
Ereignissen gedacht wird.
Mag sein, dass angesichts der Vielzahl dieser Daten einzelne im Laufe der Zeit ein wenig verwässern. Mag aber auch sein, dass wir uns scheuen vor dem Umstand, uns auf diese Weise mehr oder weniger gezwungenermaßen etwas vor Augen führen zu lassen, an dem wir doch, wie heißt es immer wieder, keinen Anteil haben, keine Schuld tragen, wenn es um Begebenheiten und Fakten geht, die uns unsere eigenen Defizite, unsere eigene Kurzsichtigkeit, unsere eigene Dummheit vor Augen führen. In diesem Falle reichen die Argumente von „Man muss auch vergessen können“ bis hin zu den strafbaren Varianten der Leugner, der Revisionisten und Geschichtsfälscher.
Vor einer Woche nun gedachte Deutschland, gedachte Europa, gedachte die Welt einem Ereignis, das in der Historie nach Ende des nationalsozialistischen Terrors als Zivilisationsbruch Bezeichnung fand. Die Rede ist vom Gedenken an die Befreiung des Lagers Auschwitz am 27. Januar 1945, der von den Vereinten Nationen im Jahr 2005 als Internationaler Gedenktag gegen das Vergessen eingerichtet wurde.
Ich bin dagegen, dass man die Geschichte Deutschlands auf die 12 Jahre Terrorherrschaft des NS-Staats reduziert, wie es oft aus den Lagern rechtsnationaler Kräfte und Bewegungen heißt. Dieses Land, seine Kultur, seine Traditionen, seine Errungenschaften in vielen Bereichen der Wissenschaft, der Kunst stehen für Werte, die ihre Zeit überdauerten und die Identität der Nation in positiver Hinsicht prägten.
Untrennbar aber auch das Kainsmal in der Geschichte Deutschlands, zwei verheerende Weltkriege, Völkermord, nicht nur im dritten Reich, unvorstellbare Kriegsverbrechen wie Verbrechen an der Zivilbevölkerung, zu nennen vordergründig die systemische Vernichtung lebensunwerten Lebens nach Maßgabe einer geistzerfressenen Ideologie, und nicht zuletzt der Antisemitismus, den ich bewusst nicht ausschließlich als Folge oder im Zusammenhang mit dem NS-Staat benenne, denn er reicht Jahrhunderte in der Deutschen Geschichte zurück, wenn auch nicht in der Dimension industrialisierter Vernichtungsstrategie, wie sie einzigartig in der Geschichte blieb.
Spätestens seit Beginn der Frankfurter Auschwitzprozesse, die ein beherzter Oberstaatsanwalt – Fritz Bauer – in den 1960er Jahren gegen jeden Widerstand, sowohl aus der Bevölkerung als auch aus der Politik, durchgesetzt hat, deren höchste Positionen nicht selten von Honoratioren besetzt waren, die Blut an ihren Händen hatten, Zitat Conrad Adenauer: „Solang man kein sauberes Wasser hat, soll man das schmutzige nicht wegschütten“, ist das deutsche Volk gezwungen, sich mit diesem Teil der Geschichte auseinanderzusetzen.
Wenn es vorher gelang, totzuschweigen, was geschah, war es spätestens mit dem Wirtschaftswunder, also mit dem Eintreten eines gewissen sozialen Wohlstandes mehr als überfällig, hinzuschauen, zuzuhören, sich zu bekennen. Jeder einzelne sollte sich die Frage stellen, welchen Anteil er an diesen Taten hatte, wenn auch die meisten, und dieser Satz kursierte bis zum Aussterben der Täter-, respektive Verursachergeneration, nicht gewusst hatten. Der Satz, der mit der heutige Generation in die Worte „wir tragen keine Schuld daran, was geht es uns an“ übergegangen ist.
Wenn wir aber stolz sein wollen auf positive Meriten in den zuvor genannten Bereichen, ohne hierauf maßgeblichen Einfluss genommen zu haben, sind wir dann nicht auch verpflichtet, Verantwortung zu übernehmen für weniger rühmliche Ereignisse, die ebenso untrennbar mit diesem Land in Verbindung stehen? Niemand soll und will diesem Land seine Identität, seinen Menschen ihr Nationalbewusstsein absprechen. Aber nur im Sinne des großen Ganzen. Nicht partiell, nicht selektiv.
Wie also umgehen mit diesem Erbe, dessen die Welt an jenem Tag gedachte? Während die einen eine kategorische Umkehr im Gedenkkult, sie nennen es zumeist „Schuldkult“, fordern, die, die sich nicht scheuen, in Gegenwart der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, selbst Überlebende des Lagers Theresienstadt, die anlässlich des Holocaust Gedenktages vor dem Deutschen Bundestag sprach, mit gelangweilter Miene und gähnende Mündern zwangszuhörten, schienen die anderen, die, die sich der uns übertragenen Verantwortung bewusst waren, in Schreckstarre und Untätigkeit zu verharren.
Der Antisemitismus hat längst wieder Fuß gefasst in Deutschland. Das Nationalbewusstsein, das über das Maß des Ideals eines patriotischen Denkens hinaus in ein ideologisch motiviertes, nationalistisches Gedankengut überging.
Wodurch aber gewinnen diese Kräfte wieder Zulauf? Durch einen Bewusstseinswandel? Durch das Versanden der Erinnerung aufgrund des steten Generationenwechsels? Durch ein Wertebewusstsein, das sich vordergründig orientiert an Konsum, an Wachstum und Besitz und den Möglichkeiten, die dies in Aussicht stellt?
Ich beobachte es seit vielen Jahren. Habe Orte besucht, an denen stattfand, was keiner wahrhaben will. Bin Menschen begegnet, die Schuld auf sich luden. Menschen, Überlebenden, die noch im hohen Alter nicht müde wurden zu gemahnen, dass so etwas nie wieder geschehen, dass in einer weitgehend aufgeklärten Gesellschaft so etwas nie wieder Raum greifen darf.
Und dennoch: Lager-Gedenkstätten wie Auschwitz, Buchenwald, Dachau und andere, haben mehr den Charakter eines Erlebnisparks, nach dessen Besichtigung man es sich beim Mittagsessen in der Cafeteria gleich neben dem Krematorium, gemütlich macht.Souvenirs und Postkarten gibt es im dazugehörigen Shop. Für die Daheimgeblieben gern noch das Auschwitz-Selfie, das den Betreffenden mit aufgesetzter Betroffenheitsmine vor dem Lagertor, den Verladerampen oder den Verbrennungsöfen zeigt.
Während der Vorbereitung eines Besuchs des Lagers Auschwitz–Birkenau wurde ich auf den Bericht eines Touristenpaars aufmerksam, das seine Polenreise ausführlich und detailgenau beschrieb: „Für das Lager sollte man drei bis vier Stunden einplanen, dann wäre noch genügend Zeit, weitere Highlights zu besuchen“, so ihr Reisetipp.
Ich könnte die Liste derartiger Erlebnisse fortsetzen, z.B. damit, dass eine sichtlich in Traurigkeit versunkene Person, die das Dokumentationszentrum des Lagers Buchenwald unter Tränen verließ, als Fotoobjekt einer Touristengruppe diente, aber ich beschränke mich auf diese wenigen Beispiele, die bezeichnend sind für den erwähnten Bewusstseinswandel, für die sich einstellende Ignoranz, für das Wegschauen, die Unfähigkeit oder den Unwillen, sich dem zu stellen, auch wenn es wehtut. Wir fühlen uns nicht mehr gemeint. Dokumentationen in Rundfunk und Fernsehen sind mehr unterhaltenden als mahnenden Charakters, was umso unverständlicher ist, das sie gerade mal drei Generationen zurückliegen. Umso unverständlicher, da noch lebende Zeitzeugen unter uns weilen, die berichten, wie es ein Überlebender dieser Hölle mit den Worten tat:
“Hätte es nur wenig länger gedauert, hätte man eine neue Sprache erfinden müssen, die das Grauen beschreibt.“
Und gerade in diesem Umstand liegt für mich die Gefahr, dass sich bewahrheitet, was Brecht in seinem Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ thematisierte. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch.“
Solange diese Gefahr
besteht, ist es von existentieller Bedeutung, dass
wir an
Jahrestagen wie dem 27. Januar und allen anderen daran erinnert
werden, dass nur in Werten wie Menschlichkeit, wie Toleranz,
Verständnis und Verständigung
der Weg in eine befriedete Welt- und Wertegemeinschaft bestehen kann, in der Hass und Gewalt, Ausgrenzung und Intoleranz, Neid und Missgunst keine Bedeutung mehr haben.