Montag, 1. Oktober 2018

Austerlitz

Die ewige Problematik, wie geht man mit dem geschichtlichen Erbe einer Nation um? Welche Verpflichtungen bringt es mit sich? Wie vermittelt man Inhalte und Botschaften, ohne der heutigen Generation so etwas wie Kollektivschuld an der Erbsünde zuzuweisen?

Ich selbst beschäftige mich seit Jahren mit dem Thema Nationalsozialismus. Bin Menschen begegnet, die ihn erlebt, die ihn mit verursacht, die unter ihm gelitten haben. Tätern, Opfern, vielfach Leugner und Ignoranten.

Dass ich dies kann, dass Menschen unserer Generation noch die Möglichkeit haben, Zeitzeugen zu begegnen, stellt für mich in der persönliche Aufarbeitung dieser Zeit ein kaum zu beschreibendes Privileg dar. Was wird sein, wenn wir die Fakten nur noch Konserven entnehmen können. Nur noch Menschen kennen, die jemanden kannten, der...
Werden sie dann lauter und präsenter, die Heraufbeschwörer einer Ordnung, die 50.000.000.000 Tote verursachte?

Über den Umgang mit dem Erbe hat der ukrainische Dokumentarfilmer Sergej Losnitza nun ein einzigartiges Werk geschaffen, das verstört. Der Film trägt als Titel den Namen eines jüdischen Intellektuellen „Jacques Austerlitz“. Losnitza beschreibt es folgendermaßen: „Den Namen meines Filmes habe ich dem gleichnamigen Roman von W.G. Sebald entnommen. In diesem Roman versucht der jüdische Wissenschaftler Jacques Austerlitz, in der Architektur und Geschichte seine Herkunft und sein Schicksal im historischen Gesamtbild zu erforschen. Ein sehr passender Name für einen Film, in dem nur noch die Architektur nach der Geschichte befragt werden kann.“

Der Film besticht durch seine Bildsprache, auf die er sich auch schon reduziert. Wenige Kameraeinstellungen. Wenig wechselnde Perspektiven.

Ein Sommertag in Sachsenhausen. Menschenmassen, die durch das Tor, das zu Zeiten seines Betriebs für die meisten nur in einer Richtung passierbar war, auf das Lagergelände drängen. Fünfzehn Minuten lang erfasst die Kamera nichts anderes als diese Impression. Menschen... Touristen... Während man zunächst die Gruppen als Ganzes sieht, konzentriert sich das eigene Auge bald auf Gesichter, auf Minen, auf Gesten. Von Betroffenheit erkannte ich keine Spur. Von Achtung vor der Bedeutung dieses Ortes noch viel weniger. Von Demut vor den Opfern Anzeichen nur in Ausnahmefällen. Nicht zum Zeitpunkt des Beginns des Rundgangs. Nicht zum Zeitpunkt, da die Besucher das Areal wieder verlassen.
Sie betreten Boden, auf denen Menschen wie sie unermessliches Leid erfuhren. Ein jüdischer Holocaustüberlebender beschrieb es einmal in einem Satz: „Dieser Ort war so grausam, dass Gott beschloss, weg zu schauen.“ Und in den Blicken der Besucher, in ihrem Verhalten, dass an ausgelassene Sommerlaune erinnert, sehe ich bestenfalls ein wohliges Erschauern, als ob man sich einen Horrorfilm anschaut, wissend, dass alles nur Fiktion ist. Was hier jedoch Zeugnis gibt, ist alles andere als Fiktion. Haben wir verlernt mitzufühlen? Sind wir in unserer untersensibilisierten Wahrnehmung für den Geist, der über all dem steht, nicht mehr empfänglich?

Ich habe selbst bei den wenigen Besuchern, die neben mir den Weg in diese Vorstellung gefunden haben, so etwas wie Unverständnis empfunden. Unverständnis nicht vor den Bildern, sondern von der Charakteristik dieses Films.
Wie gesagt, kaum technischer Aufwand. Wortbeiträge, die sich auf Wortfetzen der Umhergehenden beschränkten. Mehr nicht. Warum auch?, frage ich mich.

Können wir nur noch mitfühlen, wenn uns das Grauen in der denkbar unmittelbaren Form, sofern wir es nicht selbst erleben mussten, dargeboten wird, wie es im Dokumentationszentrum des Ground Zero in New York stattfindet? Dort wird den Besuchern in Bild- und Tonsequenzen die Stimmung vermittelt, die die Opfer Minuten vor ihrem Tot erlitten haben müssen. Minuten, bevor die Türme in sich zusammenfielen. Was bedeutet dieses in Zukunft für Gedenkstätten des Holocaust? Ich möchte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.

Was dieser Film wiedergibt, ist das Bild von Ignoranz, das sich mir selbst beim Besuch ähnlicher Orte zeigte. Selfies vor Verbrennungsöfen. Eine Frau, weinend auf einem Stein sitzend, die Hände ins Gesicht vergraben, wurde zum Fotoobjekt für Touristen. Im Eingangsbereich der Anlage, in diesem Fall spreche ich von Buchenwald, ein Schnellrestaurant, eine Cafeteria mit Souvenirverkauf. Fröhliches Beisammensein. Was machen wir morgen?

Auf einer Internetseite eines Pärchens, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Europa in möglichst kurzer Zeit zu bereisen, wurde auch von einem Zwischenstopp in Auschwitz/Birkenau berichtet. Zitat: “Hier solltet ihr schon 3 bis 4 Stunden einplanen! Möglichst bei guten Wetter anreisen, da die Wege kaum befestigt sind!“

Mein Blick geht Richtung Berlin-Mitte. Das Holocaustmahnmal. Ich gestehe, ich war kein unbedingter Befürworte dieser Anlage bzw. der Form, in der sie entstand. Die Komplexität eines Verbrechens, dargestellt in einem überdimensionalen Mahnmal. Später habe ich mich korrigieren müssen. Ich habe diesen Ort oft aufgesucht. Bin durch die Stelenreihen gewandert. Habe dieses körperliche Erleben, das die Form der Wellenbewegung der Quader vermittelt, gespürt.

Heute ist es ein Ort wie der im Film beschriebene. Ein Abenteuerspielplatz. Ein Ort zum Sonnen. Die flacheren, großflächigeren Stelen laden zum Picknick ein.
Wenn man zu Beginn, als die Gedenkstätte der Öffentlichkeit übergeben wurde, noch Aufsichtspersonal abstellte, dies zu verhindern, nahm man hiervon bald Abstand.
Die Anlage wurde sich selbst bzw. den Touristen und somit der Sensationslüsternheit der Allgemeinheit überlassen.

Ich urteile nicht über diese Menschen. Ich weiß nicht, was sich hinter ihrer Stirn tatsächlich abspielt und ob sich nicht doch so etwas wie Nachhaltigkeit einstellt. Später, wenn man sich zu Hause die Fotos und Reisebroschüren betrachtet. Vielleicht aber auch, beim Betrachten anderer Bilder.
Derer nämlich, die die Worte Brechts dokumentieren

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch.“