Mittwoch, 12. September 2018

Das Wort


Es hatte mal gehört, dass die Menschen durchschnittlich 12.000 Worte am Tag sprachen. Keine sehr große Zahl, bemessen daran, wie viele hunderttausende in diesem Buch, in dem sie alle angeordnet nach Alphabet, untereinander aufgeführt in schwarzer Schrift auf weißen Seiten, geschrieben standen. Jedes für sich allein, mit seiner jeweiligen Bedeutung, jedes mit einem Hinweis auf Herkunft und Verwandtschaft versehen. Hier warteten sie geduldig auf ihre Verwendung. Träumten davon, der Teil eines bedeutenden Textes oder eines Buches zu werden. Vielleicht auch einer Rede oder eines anderen Schriftstücks. Manche, die Akademiker unter ihnen, fanden Verwendung in Gesetzestexten oder Verordnungen. Andere wiederum in geschäftlicher Korrespondenz, in Rechnungen, Gebrauchsanweisungen oder worin auch immer. Unser Wort, also das, von dem ich erzählen möchte, schien nicht wichtig. Vielmehr meinte man, es hätte im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung verloren. Es gab Glanzzeiten in denen es in den Werken großer Schriftteller und Poeten Verwendung fand. Es fand sich in Liedern und Balladen, in Märchen und Erzählungen. Das war es, wovon es träumte. Einmal wieder der Teil eines Vers oder eines Gedichtes zu sein. Einmal etwas Großes zu beschreiben oder lieber noch, einem Menschen, dem dieses Gedicht galt, Freude zu bereiten. Mit den Gedanken hieran schlief es ein zwischen den Seiten des großen Buches.
Eines Tages aber geschah etwas, das unserem Wort seinen Traum erfüllen sollte. Ein junger Mann, er unterschied sich durch seine Hautfarbe, durch sein Gesicht, seine Kleidung, eigentlich durch alles, das ihn ausmachte, von den üblichen Besuchern der Bibliothek, nahm das Wörterbuch aus dem Regal. Es war nichts Ungewöhnliches hieran, obwohl seine Sprache nichts mit der unseres Wortes gemein hatte. Im Umblättern der Seiten näherte er sich den Worten des Anfangsbuchstaben „L“. Sein Finger fuhr die Spalten hinunter und tatsächlich, bei unserem kleinen Wort, es umfasste lediglich fünf Buchstaben, verweilte er. Es ergab sich, das dieser junge Mann, er stammte aus einem fernen Land, seinem Mädchen einen Brief schreiben wollte. Zu diesem Zwecke benötige er die Übersetzung des Wortes, das in allen Sprachen der Welt dieselbe Bedeutung hatte. Es war das Wort „Liebe“ - er notierte es eiligst auf einem Fetzen Papier den er aus seiner Jackentasche zog und verließ die Bibliothek mit dem Wort, dass so lange auf diesen Moment gewartet hatte.