Es gibt Menschen
in unserer Mitte, die nimmt man erst wahr, wenn sie nicht sichtbar
sind. Sie fügen sich wie selbstverständlich in eine Szene, in ein
Bild ein, das zur Normalität wird. Man erachtet es als
selbstverständlich. Sie sind untrennbar mit dieser Impression
verbunden. Wirklich wahrnehmen aber tut man sie erst, wenn eine
Veränderung stattgefunden hat. Wenn sie nicht da sind, wo sie bisher
ihren angestammten Platz hatten. So möchte ich hier die Geschichte
von „ihm“ erzählen. Ich kenne nicht seinen Namen. Vom Zeitpunkt
an, als sich das hier Beschriebene zugetragen hat, sprach ich nur von
„ihm“, wenn ich ihn erwähnte.
Das Café, in dem
ich ihm das erste Mal begegnete, war kein besonderes seiner Gattung.
Es war eines der Art, die mehr als Aufenthaltsort, mehr als
Treffpunkt mehr oder weniger interessanter Menschen oder solcher, die
sich dafür hielten, diente, statt den Konsumtempeln zu gleichen, in
denen man unablässig in Fünf-Minuten-Intervallen zum Verzehr
genötigt wird. Das Kant Café, war eine Institution. Ein Ort der
Kommunikation, des Austausches. Ein Ort, wie es der Großstadtflaneur
Franz Hessel in den 1920er Jahren einmal beschrieb, an dem Menschen
sichtbar werden.
Hier saß er an
seinem Platz. Einen Einzeltisch am Fenster. Vor ihm eine Tasse
Kaffee, ein Glas Wasser und unzählige, dicht beschriebene
Notizblöcke in Gestalt derer, die vor der elektronischen
Datenerfassung und Verarbeitung der jeweiligen Bestellungen, der
Aufnahme derselben dienten. Täglich besuchte ich dieses Cafe auf
meinem Weg. Meist nur für einen Augenblick. Nicht länger, als in
ihm einen Espresso zu trinken, um meinen Weg dann fortzusetzen. Die
Tageszeit freilich, wann ich mich als Gast hier einfand, variierte.
Er jedoch, war immer da. Er war früh, wenn das Cafe öffnete, der
erste sowieso abends, wenn die Türen sich schlossen, der letzte
Gast, der den Ort verließ.
Meist fand ich
meinen Tisch in einiger Entfernung zu ihm, nahm eine Zeitung vom
Ständer, breitete sie aus. Konzentriertes Lesen aber
sollte mir nicht gelingen. Immer wieder zog er meinen Blick auf sich, ohne dass er ihn
jemals erwiderte. Es war die Atmosphäre, die um ihn herum entstand.
Es war seine Erscheinung und jedes Detail, das sie ausmachte. Er
faszinierte mich. Er wirkte weltmännisch, souverän, ohne dass seine
Kleidung, er trug ausnahmslos eine schwarze Hose und ein schwarzes
Hemd, Aufschluss über einen gehobenen gesellschaftlichen Status gab.
Er wirkte gebildet, aber in einer anderen Welt lebend. Physisch
anwesend, doch mental nicht erfassbar.
Nicht selten
beobachtete ich die übrigen Gäste, insbesondere die, die sich in
unmittelbarer Nähe zu seinem Tisch befanden. Unter ihnen mancher,
der sich wie ich täglich zum Kaffee einfand. Auch sie mussten ihn
kennen. Auch sie wussten um den Umstand, dass er immer da war. Wie
gern hätte ich aus zufällig aufgeschnappten Gesprächsfragmenten
anderer Gäste Aufschluss erfahren über seine Existenz. Über sein
Geheimnis, das mir im Laufe der Zeit immer absonderlicher erschien.
Ihn anzusprechen, ihn auf einen Kaffee oder eine Zigarette
einzuladen, wie ich es mir insgeheim oft vorstellte, kam mir bald
nicht mehr in den Sinn.
Vier Jahre waren es, in denen mir die tägliche Einkehr in dieses Café zum Ritual wurde. Vier Jahre, in dem ich ihm Tag für Tag begegnete, ohne es wirklich zu tun.
Vier Jahre waren es, in denen mir die tägliche Einkehr in dieses Café zum Ritual wurde. Vier Jahre, in dem ich ihm Tag für Tag begegnete, ohne es wirklich zu tun.
Nach einer Weile
nahm ich eine Veränderung an ihm war. Zwar wirkte er nach wie vor
gepflegt. Das schlohweiße, dichte, Haar perfekt frisiert. Der weiße
Vollbart gestutzt. Die schwarze Hornbrille ... Ja, die schwarze
Hornbrille war das erste, an der es mir auffiel.
Eines der Gläser hatte einen Sprung. Ein Bügel war notdürftig mit
Klebeband fixiert. Wenn ich ihn morgens kommen sah, trug er zwei
Einkaufstüten bei sich. Was sie beinhalteten erschloss sich mir
freilich nicht. Den Gedanken, es könnte sich bei ihm um einen
schlichten Obdachlosen handeln, verwarft ich, denn Schuhe, Mantel
und übrige Kleidung, das gesamte Erscheinungsbild dieses Mannes, die schon erwähnte Atmosphäre, die seine Gegenwart schaffte, entsprachen nicht dem Bild
eines Menschen, der ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristete.
Eines Tages kam
er nicht mehr. Keinem weiteren Gast schien dies aufzufallen. Ich
besuchte das Cafe nun mehrmals am Tag. Wartete auf ihn. Aber er blieb
aus. Tage und Wochen vergingen, ohne dass er zurückkam. Sein Platz
am Fenster, an dem er saß, schrieb, dachte ... blieb verweist, wenn
nicht andere Gäste an ihm Platz nahmen. Wenn er leer stand, sah ich
ihn im Geiste. Ich bereute, ihn nie angesprochen, nie das Gespräch
mit ihm gesucht zu haben.
Es war ein
Herbstabend, als ich ziellos die Straßen entlanglief, wie ich es
heute noch gern tue. Ich suche nach Blicken, denen ich ein
Lächeln schenke, das oft spontan erwidert wird. Ich setze mich in
ein Straßencafe am Rande des Geschehens und lasse das Treiben an mir
vorüberziehen. Analysierend, philosophierend, nehme ich meine
Umgebung in mich auf. An so einem Abend sah ich ihn. Er saß an einem
Café-Tisch im vertrauten Stil angetan, jedoch ohne diesen klugen
weltmännischen Blick. Ohne einen Schein all dessen, was mich so
faszinierte an ihm. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt saß er
dort, traumverloren in sich versunken. Ich ging vorbei, besann mich
aber und fasste endlich den Mut, ihn anzusprechen. „Haben sie ein
neues Stammcafé gefunden“, fragte ich ihn, wissend, wie banal
diese Frage anmuten musste. Was hierauf geschah, gab den Anlass zu
dieser Geschichte. Er nahm meine Hände, umfasste sie mit festem
Griff, seine waren eiskalt, er zog mich leicht zu sich hinunter, sah
mich an mit einem Blick, dem ich endlose Sekunde standhielt und
sprach kein einziges Wort. Niemals in meinem Leben habe ich derart
sprechende Augen gesehen wie in diesen Sekunden. Was sie aber
sprachen, erschloss sich mir nicht. Wie paralysiert setzte ich meinen
Weg fort, nachdem seine Hände sich von meinen gelöst hatten. Das
war die letzte Begegnung mit ihm. Ich habe ihn nie mehr gesehen. Das
Rätselhafte dieser Begegnung aber, auf das ich vielleicht eines
Tages eine Antwort finden werde, trage ich für immer in meinem
Herzen.
Monatelang mied
ich das Kant-Cafe. Zwar blickte ich im Vorübergehen manchmal durch
die Scheibe, ob ich ihn wieder dort sitzen sah. Auch hoffte ich, ihn
hier und da im Getriebe der Straßen auszumachen. Er aber blieb
verschwunden. Als ich das Cafe schließlich wieder betrat, sprach
ich, eher beiläufig und ohne besonderes Interesse zu signalisieren,
eine Bedienung an, ob sie etwas über den Verbleib dieses Mannes
wusste. „Unser Hausgeist“, gab sie zur Antwort. Nein – von
einem auf den anderen Tag kam er nicht mehr. Und – nein – auch sie
kannte ihn nicht, was wohl auch für das übrige Personal galt.
Abends, so fuhr sie fort, wenn die Mitarbeiter noch einen Moment
zusammen saßen, setzte er sich dazu, rezitierte Gedichte, Passagen
aus den Klassiker des Theaters etc. Dann brach er auf in die Nacht,
um am darauffolgenden Morgen wieder pünktlich vor der Tür zu
stehen. Woher er aber kam, wohin er ging und wer er war, blieb jedem
verschlossen.
Dieses Erlebnis
liegt heute etwa acht Jahre zurück. Kaum ein Tag vergeht, da ich
nicht daran denke, wer er war und ob er überhaupt war. Kaum ein Tag,
an dem ich mich nicht daran machen wollte, die Geschichte
aufzuschreiben. Ich scheute mich, es zu tun. Ich wollte sie im
Gedächtnis, im Herzen bewahren, ohne ihr etwas Physisches zu geben.
Schließlich tat ich es doch und in einer weiteren Besonderheit, die ich
abschließend erwähnen möchte, findet sie schließlich ihr Ende.
Ich habe das Kant
Cafe nie mehr aufgesucht. Ich habe die Stadt verlassen und sie nur
hin und wieder besucht um alte Pfade mit neuem Blick zu erfassen.
Auch am Cafe führte mich dieser Weg vorbei und auch lenkte ich
meinen Blick zu jenem Tisch, der leer auf etwas zu warten schien, das
nicht geschehen konnte. Als ich mich vor einigen Wochen nun daran
machte, erste Notizen zu verfassen, suchte ich im Internet nach
Informationen über das Café. Was ich erfuhr war, dass es just
an diesem Tag, an dem ich die ersten Worte schrieb, seine Türen für
immer geschlossen hatte.
Ich suche ihn
noch heute. Nicht nur, wenn ich mich in Berlin aufhalte. Ich fand
sein Pendant an vielen Orten in den außergewöhnlichsten
Erscheinungen die sich durch ihre Besonderheiten von der Masse
abhoben. Eigenschaften aber auch, die sie für viele unsichtbar
machten.