Samstag, 5. März 2022

Menschen 22


Wenn wir beginnen, alles, das wir erleben, nur noch durch das Brennglas des Misstrauens zu betrachten. Wenn wir hinter jeder Geste der Freundlichkeit, jedem Lächeln, jeder Hand, die man uns reicht, Kalkül und Berechnung vermuten. Wenn wir außerstande sind, die Rudimente unserer mentalen Wahrnehmung, unserer Instinkte, die im Laufe der Evolution von Verstand ersetzt wurden, der weitestgehend nach Maßgabe der Ultima Ratio seine Entscheidungen trifft, zu bemühen, dann entgehen uns möglicherweise Erlebnisse wie jenes, das ich im Folgenden schildern möchte.

Ich besuchte dieser Tage eine Ausstellung, die mir jenes Ereignis, das heute vielleicht 15 Jahre zurückliegt, in Erinnerung rief. Auch damals war es eine Ausstellung, zu deren Besuch ich mich an einem eher grauen von diffusen Herbstlicht gekennzeichneten Novembertag entschloss.

Es war ein Wochentag. Die Ausstellung war daher eher mäßig besucht. Ich durchschritt die Räume nach Art und Weise wie ich es für gewöhnlich tue. Nicht also mit dem Katalog in der Hand, dem Audio-Guide auf den Ohren. Nein, ich weiche bewusst ab von dieser Manier, in dem ich zunächst alle Räume langsam durchwandere. Ihre Atmosphäre gewissermaßen in mich aufnehme. 

Vereinzelt begegnete ich weiteren Besuchern. Wartete geduldig, wenn eine Person vor einem Bild stand, dem auch mein Interesse galt. Bemühte mich, meine Schritte nicht zwischen Bild und Betrachter hindurch zu lenken, was in stärker frequentierten Museen nicht immer zu vermeiden ist, und wurde schließlich aufmerksam auf eines, welches meine besondere Aufmerksamkeit erregte. Es war eines der Werke Caspar David Friedrichs, deren charakteristische Merkmale mir besonders am Herzen liegen.

Sowohl das Werk selbst als auch die Art der Hängung, es befand sich zwischen zwei großen Sprossenfenstern, die den Blick vorbei an schon stark entlaubten Eichen auf das nahegelegene Flussufer freigaben, machte die Faszination dieses Bildes für mich aus. Ein kurzer doch intensiver Sonnenstrahl, der die nebelschwere Stimmung kurzweilig durchbrach, unterstrich diese Szene noch.

Ich mag wohl einige Minuten versunken in Gedanken vor dem Bild gestanden haben, sodass ich den Herrn, der sich mir bis auf wenige Schritte näherte, nicht wahrnahm. Seine Worte schließlich: „Sie lieben Caspar David Friedrich“, die er mit leiser Stimme an mich richtete, durchbrachen die Ruhe des Augenblicks. Ich antwortete nicht. Wir betrachteten beide noch eine Weile das Werk. Es schien, dass sich unser beider Blicke auf der Leinwand trafen. Schließlich entschloss ich mich zu einem „Ja!“, bemüht, diesem Ja etwas Feierliches, so wie ich es der Stimmung entsprechend für angemessen hielt, zu geben. Wir betrachteten weitere Werke des Künstlers. Er erwies sich als Kenner der Frühromantik Berichtete. Plauderte. Fand in mir einen aufmerksamen und dankbaren Zuhörer, dem er, er mochte bereits 85 Jahre oder mehr zählen, ungeachtet des Umstandes, dass meine Kenntnisse über die Malerei im Allgemeinen, die Epoche der Romantik im Besonderen eher laienhaft sind, mit nachsichtiger Güte erklärte.

Mein Interesse galt bald mehr dem alten Herrn als den Exponaten und so fragte ich ihn gegen Ende des Rundgangs, ob ich ihn zu einer Tasse Kaffee einladen dürfe. Die Cafeteria, wie sie sich zumeist im Eingangsbereich von Museen zwischen Kassentresen und Museumsshop befindet, war nur dürftig besetzt. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag, entgegnete er. Ich wohne nur wenige Schritte vom Museum entfernt. Wenn sie mich begleiten mögen, können wir unsere Unterhaltung bei mir zuhause fortführen. Wie gesagt, es seien nur wenige Schritte. Im Übrigen wäre der Kaffee, ebenso wie der Kuchen bei ihn zuhause besser als hier.

Sein Haus, das hinter einer dichten Hecke lag, war eines jener Art, wie man sie in den 50er Jahren baute. Ein Bungalow, nicht sehr feudal doch auch nicht bescheiden von Art, lag am Ende eines natursteingepflasterten Gartenweges, der seinerseits durch einen liebevoll und aufmerksam gepflegten Garten führte. Im Betreten des Hauses wies er mir den Weg in den Wintergarten, in dem ich Platz nehmen solle. Er kümmere sich derweilen um Tee und Gebäck. Ich möchte mich nur ein wenig gedulden. So befand sich ein wildfremder Mann im Haus eines nicht minder fremden Gastgebers, dem man vor gut einer Stunde das erste Mal im Leben begegnet war. Und obschon die Situation etwas Befremdliches haben musste, sie war es in keiner Weise. Im Gegenteil, weder Befangenheit noch Scheu machte sich breit. Es hatte eher etwas Vertrautes.

Zum Wintergarten gelangte ich durch sein Wohnzimmer, das in eine Art Arbeitszimmer überging. Bücherregale, wie sollte es anders sein, Antiquitäten, Bilder und wieder Bücher in unzähligen Regalmetern, schufen eine Stimmung, die, so sehe ich es heute, die wohlige und vertraute Stimmung begründeten. Neugierig ließ ich meine Blicke wandern: „Schauen sie ruhig“, hörte ich ihn sagen. Er war Lehrer, ließ er mich beiläufig wissen. Einer der Art, deren Verhältnis zu seinen Schülern nicht mit dem Klingeln der Pausenglocke endete. Einer der Art, die noch heute regen Kontakt zu einigen ihrer Schüler pflegen.

Er brachte den Kuchen. Ich schenkte uns Tee ein. Wie plauderten, schwiegen zuweilen, ohne dass es beklemmend wurde. Er berichtet evon seinem Leben. Seinen Reisen, seiner Arbeit, seiner Frau, die bereits vor vielen Jahren starb. Ich berichte meinerseits von meinen Interessen. Meinen Träumen, Idealen, Visionen. Die Zeit verging unmerklich, Es mochten 4 oder 5 Stunden vergangen sein, die wir in einer Vertrautheit, einer Harmonie verbrachten, wie dies bestenfalls Menschen, die einander lange Zeit kennen, gelingt.

Als wir uns schließlich verabschiedeten, ließ ich ihm meine Telefonnummer da. Er gab mir seine, doch denke ich, dass wir beide wussten, dass sich dies nicht wiederholen ließ. Er brachte mich zur Tür. Ich erinnere mich, dass es zu schneien begann. Schaute er mir nach? Grüßte er ein letztes Mal? Hier verblassen meine Erinnerungen.

Ich weiß nur, dass es eine Art der Begegnungen war, an die ich mich ein Leben lang erinnern werde.

Ich sehe ihn noch vor mir. Klein, ein wenig eingefallen, doch mit wachen Augen. Einem wachen Verstand. Ich verwahrte seine Nummer lang in meinem Notizbuch. Hatte mehr als einmal den Hörer in der Hand, um ihn anzurufen. Ich ließ es. 

Es bestand ein paar Stunden an einem trüben Novembertag...und fortan in der Erinnerung.