Dienstag, 26. November 2019

Hamburg, Hauptbahnhof



Hamburg-Hauptbahnhof, 23:30 Uhr,
das sind Horden sturzbetrunkener, nach Bierdunst und Schweiß stinkender, aus buchstäblich voller Kehle grölender, kaum eines verständlich artikulierten Lauts fähiger Fußballfans.
Hamburg-Hauptbahnhof, 23:30 Uhr, 
das sind längst jenseits jedes, nach gesellschaftlichen Maßstäben ermessbaren Standes vegetierende, leeren Blickes aus starren Augen um eine Gabe bittende, vom Rest der durch die Nacht eilenden Passanten bewusst nicht gesehen werdende , Gestalten.
Hamburg-Hauptbahnhof, 23:30 Uhr,
das sind wartende, ihr Bedürfnis nach später Wegzehrung an Stehtischen von Fastfood-Ketten befriedigende, der Verführung durch Wahrnehmung erzwingende Werbeformate, erliegende, ihren Körper mit minderwertiger Billigware, zu sich genommen zwischen überfüllt, stinkenden Mülleimern und schwerst-alkoholisierten, Uringestank exhalierende Schattengestalten der Nacht, malträtierende, Reisende.
Hamburg-Hauptbahnhof, 23.30 Uhr, 
das bin ich, Notizen für diese Geschichte auf dem Deckel eines Müllcontainers abfassend, als Schreibunterlage das Programm der Oper verwendend, deren großformatiger Hochglanzschriftzug STAATSOPER mir zum Gespött der um mich Stehenden gereicht.
Hamburg-Hauptbahnhof, 23:30 Uhr,
das sind in martialischer Körperspannung patrouillierende Polizisten, die längst nicht mehr hinschauen, wenn außerhalb der gekennzeichneten Flächen geraucht, wenn gestohlen, gedealt, gekotzt wird ( gibt es auch hierfür gekennzeichnete Bereiche?)
Hamburg-Hauptbahnhof, 23:30 Uhr, 
das ist der denkbar deutlichste Kontrast zwischen dem Rama-Familien-Idyll, im Dauerbeschuss von großformatigen Videoleinwänden strahlend, und der Kälte der Nacht, die sich in Grad Celsius nicht bemessen lässt.
Hamburg-Hauptbahnhof, 23:30 Uhr, 
das ist der alte Mann fremdländischer Herkunft, minutenlang traurig und desillusioniert  am Fuße der Bahnsteigtreppe verharrend, bis ihm endlich jemand den Arm zur Hilfe reicht.
Hamburg-Hauptbahnhof, 23:30 Uhr, 
das ist der Vater einer vielleicht fünfjährigen Tochter, sein Kind schützend im Arm haltend, nicht wissend, wie er den verstört fragenden Augen des Kindes dies alles erklären soll.