Samstag, 26. August 2017

Ehrfurcht und Abscheu vor Gottes Wort

Auszug aus „Nachtzug nach Lissabon“ von Pascal Mercier



Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft der Poesie. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.
Doch es gibt auch eine andere Welt, in der ich nicht leben will: die Welt, in der man den Körper und das selbständige Denken verteufelt und Dinge als Sünde brandmarkt, die zum Besten gehören, was wir erleben können. Die Welt, in der uns Liebe abverlangt wird gegenüber Tyrannen, Menschenschindern und Meuchelmördern, ob ihre brutalen Stiefelschritte mit betäubendem Echo durch die Gassen hallen oder ob sie mit katzenhafter Lautlosigkeit, als feige Schatten, durch die Straßen schleichen und ihren Opfern den blitzenden Stahl von hinten ins Herz bohren. Es gehört zum Absurdesten, was den Menschen von der Kanzel herab zugemutet worden ist, solchen Kreaturen zu verzeihen und sie sogar zu lieben. Selbst wenn jemand es wirklich vermöchte: Es bedeutete eine beispiellose Unwahrhaftigkeit und gnadenlose Selbstverleugnung, die mit vollständiger Verkrüppelung bezahlt würde. Dieses Gebot, dieses wahnwitzige, abartige Gebot der Liebe zu den Feinden, es ist dazu angetan, die Menschen zu brechen, ihnen allen Mut und alles Selbstvertrauen zu rauben und sie geschmeidig zu machen in den Händen der Tyrannen, damit sie nicht die Kraft finden mögen, gegen sie aufzustehen, wenn nötig mit Waffen.
Ich verehre Gottes Wort, denn ich liebe seine poetische Kraft. Ich verabscheue Gottes Wort, denn ich hasse seine Grausamkeit. Die Liebe, sie ist eine schwierige Liebe, denn sie muß unablässig trennen zwischen der Leuchtkraft der Worte und der wortgewaltigen Unterjochung durch einen selbstgefälligen Gott. Der Haß, er ist ein schwieriger Haß, denn wie kann man sich erlauben, Worte zu hassen, die zur Melodie des Lebens in diesem Teil der Erde gehören? Worte, an denen wir von früh auf gelernt haben, was Ehrfurcht ist? Worte, die uns wie Leuchtfeuer waren, als wir zu spüren begannen, daß das sichtbare Leben nicht das ganze Leben sein kann? Worte, ohne die wir nicht wären, was wir sind?
Aber vergessen wir nicht: Es sind Worte, die von Abraham verlangen, den eigenen Sohn zu schlachten wie ein Tier. Was machen wir mit unserer Wut, wenn wir das lesen? Was ist von einem solchen Gott zu halten? Einem Gott, der Hiob vorwirft, daß er mit ihm rechte, wo er doch nichts könne und nichts verstehe? Wer war es denn, der ihn so geschaffen hat? Und warum ist es weniger ungerecht, wenn Gott jemanden ohne Grund ins Unglück stürzt, als wenn ein gewöhnlicher Sterblicher es tut? Hat Hiob nicht jeden Grund zu seiner Klage?
Die Poesie des göttlichen Worts, sie ist so überwältigend, daß sie alles zum Verstummen bringt und jeder Widerspruch zum jämmerlichen Kläffen wird. Deshalb kann man die Bibel nicht einfach weglegen, sondern muß sie wegwerfen, wenn man genug hat von ihren Zumutungen und der Knechtschaft, die sie über uns verhängt. Es spricht aus ihr ein lebensferner, freudloser Gott, der den gewaltigen Umfang eines menschlichen Lebens – den großen Kreis, den es zu beschreiben vermag, wenn man ihm die Freiheit läßt – einengen will auf den einzigen, ausdehnungslosen Punkt des Gehorsams. Gramgebeugt und sündenbeladen, ausgedörrt von Unterwerfung und der Würdelosigkeit der Beichte, mit dem Aschenkreuz auf der Stirn sollen wir dem Grab entgegengehen, in der tausendfach widerlegten Hoffnung auf ein besseres Leben an Seiner Seite. Doch wie könnte es besser sein an der Seite von Einem, der uns vorher aller Freuden und Freiheiten beraubt hatte?
Und doch sind sie von betörender Schönheit, die Worte, die von Ihm kommen und zu Ihm gehen. Wie habe ich sie als Meßdiener geliebt! Wie haben sie mich trunken gemacht im Schein der Altarkerzen! Wie klar, wie sonnenklar schien es, daß diese Worte das Maß aller Dinge waren! Wie unverständlich kam es mir vor, daß den Leuten auch andere Worte wichtig waren, wo doch ein jedes von ihnen nur verwerfliche Zerstreuung und Verlust des Wesentlichen bedeuten konnte! Noch heute bleibe ich stehen, wenn ich einen gregorianischen Gesang höre, und einen unachtsamen Moment lang bin ich traurig, daß die frühere Trunkenheit unwiderruflich der Rebellion gewichen ist. Einer Rebellion, die wie eine Stichflamme in mir hochschoß, als ich das erstemal diese beiden Worte hörte: sacrificium intellectus.
Wie sollen wir glücklich sein ohne Neugierde, ohne Fragen, Zweifel und Argumente? Ohne Freude am Denken? Die beiden Worte, die wie ein Hieb mit dem Schwert sind, das uns enthauptet, sie bedeuten nichts weniger als die Forderung, unser Fühlen und Tun gegen unser Denken zu leben, sie sind die Aufforderung zu einer umfassenden Gespaltenheit, der Befehl, gerade das zu opfern, was der Kern eines jeden Glücks ist: die innere Einheit und Stimmigkeit unseres Lebens. Der Sklave auf der Galeere, er ist gekettet, aber er kann denken, was er will. Doch was Er, unser Gott, von uns verlangt, ist, daß wir unsere Versklavung eigenhändig in unsere tiefsten Tiefen hineintreiben und es auch noch freiwillig und mit Freuden tun. Kann es eine größere Verhöhnung geben?
Der Herr, er ist in seiner Allgegenwart einer, der uns Tag und Nacht beobachtet, er führt in jeder Stunde, jeder Minute, jeder Sekunde Buch über unser Tun und Denken, nie läßt er uns in Ruhe, nie gönnt er uns einen Moment, wo wir ganz für uns sein könnten. Was ist ein Mensch ohne Geheimnisse? Ohne Gedanken und Wünsche, die nur er, er ganz allein, kennt? Die Folterknechte, diejenigen der Inquisition und die heutigen, sie wissen: Schneide ihm den Rückzug nach innen ab, lösche nie das Licht, lasse ihn nie allein, verwehre ihm Schlaf und Stille: Er wird reden. Daß die Folter uns die Seele stiehlt, das bedeutet: Sie zerstört die Einsamkeit mit uns selbst, die wir brauchen wie die Luft zum Atmen. Hat der Herr, unser Gott, nicht bedacht, daß er uns mit seiner ungezügelten Neugierde und abstoßenden Schaulust die Seele stiehlt, eine Seele zudem, die unsterblich sein soll?
Wer möchte im Ernst unsterblich sein? Wer möchte bis in alle Ewigkeit leben? Wie langweilig und schal es sein müßte zu wissen: Es spielt keine Rolle, was heute passiert, in diesem Monat, diesem Jahr: Es kommen noch unendlich viele Tage, Monate, Jahre. Unendlich viele, buchstäblich. Würde, wenn es so wäre, noch irgend etwas zählen? Wir bräuchten nicht mehr mit der Zeit zu rechnen, könnten nichts verpassen, müßten uns nicht beeilen. Es wäre gleichgültig, ob wir etwas heute tun oder morgen, vollkommen gleichgültig. Millionenfache Versäumnisse würden vor der Ewigkeit zu einem Nichts, und es hätte keinen Sinn, etwas zu bedauern, denn es bliebe immer Zeit, es nachzuholen. Nicht einmal in den Tag hinein leben könnten wir, denn dieses Glück zehrt vom Bewußtsein der verrinnenden Zeit, der Müßiggänger ist ein Abenteurer im Angesicht des Todes, ein Kreuzritter wider das Diktat der Eile. Wenn immer und überall Zeit für alles und jedes ist: Wo sollte da noch Raum sein für die Freude an Zeitverschwendung?
Ein Gefühl ist nicht mehr dasselbe, wenn es zum zweitenmal kommt. Es verfärbt sich durch das Gewahren seiner Wiederkehr. Wir werden unserer Gefühle müde und überdrüssig, wenn sie zu oft kommen und zu lange dauern. In der unsterblichen Seele müßte ein gigantischer Überdruß anwachsen und eine schreiende Verzweiflung angesichts der Gewißheit, daß es nie enden wird, niemals. Gefühle wollen sich entwickeln, und wir mit ihnen. Sie sind, was sie sind, weil sie abstoßen, was sie einst waren, und weil sie einer Zukunft entgegenströmen, wo sie sich von neuem von sich selbst entfernen werden. Wenn dieser Strom ins Unendliche flösse: Es müßten in uns tausendfach Empfindungen entstehen, die wir uns, gewohnt an eine überschaubare Zeit, überhaupt nicht vorstellen können. So daß wir gar nicht wissen, was uns versprochen wird, wenn wir vom ewigen Leben hören. Wie wäre es, in Ewigkeit wir zu sein, bar des Trostes, dereinst erlöst zu werden von der Nötigung, wir zu sein? Wir wissen es nicht, und es ist ein Segen, daß wir es nie wissen werden. Denn das eine wissen wir doch: Es wäre die Hölle, dieses Paradies der Unsterblichkeit.
Es ist der Tod, der dem Augenblick seine Schönheit gibt und seinen Schrecken. Nur durch den Tod ist die Zeit eine lebendige Zeit. Warum weiß das der HERR nicht, der allwissende Gott? Warum droht er uns mit einer Endlosigkeit, die unerträgliche Ödnis bedeuten müßte?
Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche den Glanz ihrer Fenster, ihre kühle Stille, ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche die Fluten der Orgel und die heilige Andacht betender Menschen. Ich brauche die Heiligkeit von Worten, die Erhabenheit großer Poesie. All das brauche ich. Doch nicht weniger brauche ich die Freiheit und die Feindschaft gegen alles Grausame. Denn das eine ist nichts ohne das andere. Und niemand möge mich zwingen zu wählen.