Ich weiß noch, dass Vater sich oft dieses Begriffs bediente, wenn er von dem Ort sprach, den er in seiner Kindheit verlassen musste. Er hatte etwas Feierliches in der Stimme, die nicht selten brach unter wehmütigen Gedanken. Melancholie, Trauer, etwas lassen zu müssen, noch dazu als Folge von Umständen, die das Furchtbarste offenbaren, dessen Menschen fähig sind. Ich spreche weniger von Krieg als von dem, was diesen damals wie heute vorangeht. Das Aussetzen von Verstand und Vernunft.
Ich war ein Kind. Zu klein, zu erfassen, was er meinte. Zuhause, das war für mich der Ort, an dem mein Hausschlüssel ins Schloss passte. War für mich eine Selbstverständlichkeit. Es war der Ort, an dem meine Eltern lebten. An dem ich die Schule besuchte. An dem Menschen lebten, die mein soziales Umfeld bildeten.
Dass es mehr ist als dies, sollte ich im Laufe meines Lebens erfahren.
Heute weiß ich, wovon Vater sprach. Zu Hause, das ist weniger ein physischer Ort als ein Ideal. Das sind Menschen, die dich lieben. Menschen, in deren Liebe du Schutz und Geborgenheit findest, die diese gleichermaßen durch dich erfahren. Menschen, die dich tragen. Die dich sehen und erkennen. Die dich nicht reduzieren auf deine Fehlbarkeiten. Dich nicht bewerten an Unzulänglichkeiten und Schwächen. Dich nicht bewerten an dem Nutzen, den sie durch dich erfahren.
Natürlich ist es ein Stück weit auch dieser andere Ort. Deine Adresse. Dein Haus. Deine Wohnung, die du dir nach Geschmack, Ermessen oder Möglichkeiten mehr oder weniger behaglich gestaltest. Aber all dies ist immer nur das Gefäß. Der Rahmen. Füllen können wir ihn auf die vielfältigste Art mit Dingen, die uns am Herzen liegen. Die unseren Vorstellungen von gutem Geschmack entsprechen. Ein Zuhause aber ist es erst dann, wenn diese Wärme und Behaglichkeit einem Gefühl entspringt, das vielleicht mit Worten kaum zu beschreiben ist.
Ich glaube, dass Vater dies meinte, wenn er von Zuhause sprach.
Ich glaube überdies, dass ich mein Leben lang, zunächst unbewusst und von einer inneren, undefinierbaren Sehnsucht getrieben, nach dem suchte, was er meinte.
Sonderbarer Weise konnte er, konnte mir meine Familie diese Werte nie recht vermitteln. Das, was man ihm und seiner Generation nahm, der heranwachsenden Generation zu vermitteln, war ihm kaum gegeben. Aber die Sehnsucht nach all dem, ergehend aus dem, was ich in Vaters Miene las, wenn ich es auch damals und lange Zeit in Folge nicht recht deuten konnte, treibt mich bis zum heutigen Tag.
Bis zum letzten Tag seines Lebens sprach er von Zuhause. Ich glaube, er hat es nie mehr gefunden. Er hat ein Haus gebaut. Genoss soziale Sicherheit. Gründete eine Familie. Wie gesagt: Das Gefäß. Aber es zu füllen mit Inhalten, die man Liebe nennt, ist ihm nicht gelungen. Die Form von Liebe, nach der ich mein Leben lang suchte, nämlich anzukommen. Angenommen zu werden. Bleiben zu dürfen. Die Tür hinunter sich schließen zu können in der Gewissheit, hier gehörst du hin. Hier bist du zuhause...
Ich habe mein Leben nie nach materiellen Werten ausgerichtet. War ein Idealist. Ein Träumer. Ein Liebender. Erfuhr hierfür nicht selten Spott und Ausgrenzung. Werte trotz allem, denen ich bis zum Ende meines Weges folgen werde. Wenn ich es nicht finde, gehe ich eines Tages zumindest in der Gewissheit, mir selbst treu geblieben zu sein, sowie dem einen oder anderen gegeben zu haben, was ich selbst selten erfuhr.