Ein hochsommerlicher Sonntagnachmittag. Man lud zu Kaffee und Kuchen. Temperaturen weit jenseits jeden Wohlgefühls, was zu einer gewissen Erschöpfung, hieraus wiederum resultierend eine leichten, später einsetzenden Reizbarkeit der um den Tisch Versammelten führen mochte. Man plauderte über den letzten Urlaub. Über Freizeitaktivitäten, denen man vielleicht gemeinsam nachgehen könnte. Über Nichtigkeiten, bemessen an einem späteren Themenschwerpunkt, der die Stimmung an jenem Nachmittag ein wenig zu kippen drohte. Ein Thema, dessen Gegenstand ein Ereignis gab, das zu diesem Zeitpunkt bereits einige Monate zurücklag.
Eine Szene, die sich so hätte zutragen können im russischen Peredelkino. Gastgeber Leo Tolstoi. Unter den Gästen namhafte Persönlichkeiten vom Rang des Gastgebers, plaudernd, kontrovers diskutierend über mehr oder wenige bedeutsame Themen.
Aber weit gefehlt. Schauplatz dieser Handlung: ein bürgerlicher Haushalt in der Mitte unserer Gesellschaft.
Das Stichwort fiel gewissermaßen in einer Redepause. In einem Moment also, der für einen Themawechsel geeignet schien. Geeignet auch, den, wie gesagt leichten Inhalten der bisherigen Konversation ein wenig Gewicht entgegenzusetzen.
Ein soziales Thema, dem ein Ereignis Motiv gab, das sich in einem Nahverkehrszug der Deutschen Bahn, nahe dem Bahnhof einer holsteinischen Kleinstadt, zutrug. Ein Ereignis, dessen Verlauf an Tragik kaum etwas Vergleichbares entgegenzusetzen war.
Ein im Zug befindlicher junger Mann, muss man erwähnen, dass er fremdländischer Herkunft war, bedrohte weitere Fahrgäste mit einem Messer. Sah sich in einer ausweglosen Situation, in deren Folge er wild um sich stach. Mehrere Menschen zum Teil schwer verletzte. Zwei junge Menschen gar tödliche Verletzungen zufügte. Eine weitere Person, Augenzeugin der Tat, nahm sich angesichts ihrer durch das Geschehen erlittenen Psychose einige Wochen später das Leben.
Wenige Tage vor der zu Beginn geschilderten Kaffeerunde unter Freunden, der Prozessauftakt gegen den vermeintlichen Täter.
Berichterstattung in allen regionalen wie überregionalen Medien. Eine Diskussion in einem Rundfunksender öffentlichen Rechts. Einer der Sendeformate, bei denen man als Zuhörer aufgefordert ist, sich per Telefon aktiv zu beteiligen. Ich hörte diesen Beitrag beiläufig, ohne dem Inhalten zunächst größeres Interesse zu schenken. Der Vorfall, ich nennen ihn bewusst (noch) nicht Verbrechen, lag wie gesagt einige Monate zurück und jeder weiß, dass sich in unserer überfrachteten Medienlandschaft die Halbwertszeit derartiger Meldungen eher gering bemisst.
Am Telefon: Zu Worte kam ein Herr mittleren Alters, der eine sehr kategorisch, energische Haltung zum Umgang mit dem Mörder, wie aus seiner Sicht der Dinge also mit jenem zu verfahren sei, hatte. Ein wenig beschwichtigender, doch aus meiner Sicht sehr bedeutungsvoll die Worte einer Sprecherin, der für diesen Fall zuständigen Strafkammer. Man möge doch von dem Angeklagten in Person sprechen. Letztlich handele es sich um einen Menschen, dem das Recht auf einen fairen Prozess zustehe. Mörder sei er erst dann, wenn er des Mordes verurteilt sei. Und selbst dann handele es sich um ein menschliches Wesen mit einer Geschichte. Mit einem Tatmotiv und weiteren Umständen, die diesem grauenvollen Tathergang zugrunde lagen.
Freilich, ich erwähnte es schon, kein Thema, das in den Rahmen einer Kaffeetafel passte. Dennoch. Nun stand es im Raume. Wollte diskutiert werden.
Nein, ich sprach mich nicht für den Täter aus. Soweit wollte ich nicht gehen. Die Tat zu bagatellisieren. Den Schmerz der Opfer zu verunglimpfen, lag mir fern. Worum es mir ging, war die Frage der Verantwortlichkeit. Die Frage der Schuld.
Ein Mann, den die Öffentlichkeit genau auf dies reduziert. Ein Mensch, der sich eines Verbrechens schuldig machte. Würde man diesen Mann der Öffentlichkeit überlassen, einer Öffentlichkeit, die noch unter dem unmittelbaren Einfluss der Tat stünde, eine Öffentlichkeit, die nicht einmal direkt betroffen sein müsste. Man würde ihn mit Knüppeln und Steinen erschlagen.
Dass dieser Mann, vielleicht Flüchtling aus einem Kriegsgebiet, möglicherweise selbst furchtbar traumatisiert war. Traumatisiert, weil er selbst Zeuge oder Opfer unvorstellbarer Verbrechen, staatlich legitimierten Unrechtes in Form einer menschenverachtenden Kriegsführung wurde, ist nicht von Belang. Nicht in den Augen des Pöbels, der ihm mit geballter Faust entgegentritt.
Er war der Justiz nicht unbekannt. Mehrfach wegen verschiedener Delikte, Gewalttaten vorbestraft. Psychologische Gutachten rieten zu unbedingter Therapie. Unterbringung in entsprechenden Einrichtungen. Zur Hilfeleistung, die eben Schlimmeres verhindern möge. Nichts dergleichen geschah. Man verschleppte Entscheidungen. Schaute weg. Überließ den Dingen ihren Lauf, der in die Katastrophe mündete.
Am Ende des Tages bleibt sie offen. Die Frage der Schuld. Das Gesetzt spricht unter Berücksichtigung besonderer Umstände von „Schuldunfähigkeit (auch klarer Zurechnungsunfähigkeit), die im Strafrecht den Grund gibt, die Rechtsschuld an einer Handlung auszuschließen.“ Darüber nun hat das Gericht zu entscheiden. Die Sprecherin der Kammer, die der Diskussion im Rundfunk beisaß, äußerte sich dahingehend, dass weder diesem Manne noch der Gesellschaft, in die er unter Umständen früher oder später wieder entlassen würde, mit einer Haftstrafe gedient sei. Dieser Mann braucht Hilfe, die nur in einer Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung respektive entsprechender therapeutischer Maßnahmen bestehen könne. Ein Freispruch also unter der Auflage dieser Unterbringungsform. Dennoch ist der Frage der Schuld aus meiner Sicht nicht ausreichend Genüge getan. Das Argument einer der am Tisch versammelten Gäste, selbst Mutter zweier Kinder: „Was aber kann mein Kind dafür?“ Was können wir als Zivilgesellschaftlich dafür?
Ich würde mir wünschen, dass sich jeder selbst diese Frage stellt. Ich habe es für mich getan und kam zu dem Schluss, dass sich niemand, Kinder selbstverständlich ausgenommen, der Mitschuld an Taten wie dieser, ob sie nun in Hanau, in Solingen, in Hoyerswerda, in Eberswalde, Halle oder wo auch immer stattfinden, freisprechen sollte.
Eine Schuld, die in Passivität, im Wegschauen besteht. Eine Schuld in Form einer bestenfalls nur sehr bedingt funktionierenden Solidargemeinschaft. Eine Schuld mangelnden Verantwortungsbewusstseins füreinander. Eine Schuld in unserm Konsumverhalten, deren unablässige Gier nach Mehrung und Wachstum und dies möglichst zu geringstmöglichem Aufwand, zu einem im globalen Sinne sozialen Ungleichgewicht führt, das wiederum eine weiter vorantreibende Spaltung der Gesellschaft und somit unermessliches Leid zur Folge hat. Leid, das sich in Unzufriedenheit, in Flucht vor Armut und Elend, vielleicht auch in dem Gedanken, sich ggf. etwas von dem Reichtum zu nehmen, den man im eigenen Land für Billigstlöhne unter verheerenden Arbeitsbedingungen produziert, damit er dem Wohlstand des Westens Genüge tut.
Was auch immer den Grund für seine Flucht gab. Krieg. Soziale Not. Verderben. Wenn das Gericht ihn schuldig spricht, ist seine Tat vor dem Gesetz gesühnt. Das Problem aber ist damit nicht gelöst.
Ich klage nicht an, denn ich bin selbst Teil dieser Gesellschaft. Auch ich trage bei zu diesen Missständen und die Erkenntnis allein macht mich noch nicht zu einem Wohltäter. Aber vielleicht ist es ein erster Schritt zu einem veränderten Bewusstsein. Und vielleicht führt dies am Ende zu einem besseren Miteinander. Zu weniger Neid, Missgunst und Gewalt im Sinne einer global befriedeten Gesellschaftsordnung.