Es war der Vorabend dieses Festes, an dem einmal
jährlich Begriffe wie Nächstenliebe, Herzenswärme, Geborgenheit zu
Ritualen werden. Es gab keinen konkreten Grund für seinen Besuch.
Ebenso wie der Zeitpunkt willkürlich gewählt war. Jenes Fest
bedeutete ihm nichts. Jedenfalls nicht im Sinne dessen, was die
meisten Menschen ihm für gewöhnlich beimaßen. So hatte er es auch
nicht eilig, sein Ziel zu erreichen. Im Gegenteil. Es schien, als
zögerte er die Ankunft bewusst hinaus.
Es war der letzte Zug
dieses Tages, der ihn brachte. Den einzigen Fahrgast, der hier den
Zug verließ. Der die behagliche Wärme des Abteils nun gegen eine
unwirtliche, nasskalte Winternacht tauschen sollte.
Die
Ledersohlen seiner eleganten Schuhe hallten wider vom nassen Asphalt
des letzten Stück Weges, dessen Vertrautheit er sich nur
widerstrebend eingestand. Alles, das diesen Ort ausmachte,
widerstrebte ihm, wenn er auch wusste, dass es weniger die Stadt an
sich war, als die Erinnerungen, die er mit ihr verband. Er wusste
nicht, was er hier sollte. Was ihn an diesen Ort führte. Wie lange
er bleiben würde. Und doch trieb ihn eine Kraft, die unerklärlich
schien. Die nicht greifbar war. Etwas in seinem Inneren, dass ihm
diesen Weg wies. So lief er gleichmütigen Schrittes durch die Nacht.
Den Mantelkragen hochgeschlagen. Den Schal fester um den Hals
gewickelt. Obschon er weder die Nässe noch die Kälte, die seine
Kleider langsam durchdrang, bald nicht mehr spürte.
Die alte Frau öffnete ihm. Eine kurze, unterkühlte
Begrüßung. Es war spät. Unter diesem Vorwand zog er sich sogleich
zurück in dieses Zimmer, das ihn in seiner schmucklosen, fast
schäbig anmutenden Nüchternheit schon zu erwarten schien.
Dass
er sich von ihnen, den Menschen dieser Stadt ausnahm, anders war als
sie, die hier nie weg kamen, anders als die, in deren Mienen sich die
Farblosigkeit der Stadt reflektierte oder jene, die kaum von Neugier
getrieben die Vielfalt der Welt bestenfalls aus den Schlagzeilen
einer großformatigen Tageszeitung entnahmen, deren Anspruch ans
Leben sich im Konsum von 150 TV Kanälen zu erschöpfen schien, denen
das Café, das er vergeblich suchte, ein billiger Backshop war, der
ein Produkt verkaufte, deren Qualität sich über geschickt
inszenierte Werbeformate, kaum aber über das, was man hinlänglich
als Wahrnehmung bezeichnet, - eine Eigenschaft, die seinem steten
analytischen Blick für die Dinge die seine Welt ausmachten
voranstand, war ihm allgegenwärtig.
Er spürte ihre
Blicke. Blicke, in denen er Fragen las. Aber so wenig sie erkannten,
erkannte auch er. Schemenhafte Vermutungen bestenfalls. Er tauchte
auf und würde wieder verschwinden. In ihrer Wahrnehmung versandete
die Frage, wer er sei.
Der Gedanke, ihm schon einmal begegnet zu sein. In
seiner eigenen würden die Erinnerungen weiter bestehen. Erinnerungen
an seine Vergangenheit. An ein gemeinsames Stück Weg mit ihnen,
denen er damals so wenig glich wie heute. Er fühlte das. man sich
nach ihm umdrehte. Ihren Blicken im Vorübergehen hielt er sehr
bewusst stand, bemüht jedoch den stummen fragen keine Antwort zu
schenken.
Und so suchte er die Orte, die Wege seiner
Vergangenheit.
Und er sah sich wieder als der, der er war,
als er ging in dieser Nacht damals. Als der, der sich schwor, diese
Stadt, diese Wege nie mehr zu betreten. Und er sah sich flüchten vor
denen, die ihn verachteten. Ihn verspotteten. Und er sah den Jungen
mit gebeugter Haltung. Gebeugter Seele. Mit Narben auf der Seele.
Unterdrückten Tränen, weil man nicht schwach war, nicht weinte in
der Welt, in die er geboren wurde. In dem Haus, in dem er nun saß.
Nachdachte über gestern und heute. Über das Band zwischen gestern
und heute, das er Zeit seines Lebens zu zertrennen suchte. Es
versuche, doch davon abließ aus Angst, denn das Heute ist nichts
ohne das Gestern.
Tage, Nächte nach seiner Ankunft stand er
wieder am Bahnsteig. Nacht. Menschenleer, verregnet. Er
würde den Zug besteigen. Die Türen würden sich schließen. Der Zug
sich in Bewegung setzen. Wie ein Dieb in der Nacht war er gekommen.
Ebenso schlich er sich davon. Davon, in das Nichts seiner Existenz.
Der ewig Suchende nach etwas, das er nicht einmal mehr benennen
konnte. Eine einzige Frage stellte sich ihm im Moment, da er den Fuß
auf die Schwelle der Waggontür setzte...
Und er dachte an den
jungen Mann in jener Nacht vor 40 Jahren. Den Jungen, der sich auf
den Weg machte zu Zielen, die bestenfalls in seiner Phantasie
existierten. Einer Phantasie aber, die ihm in den schlimmsten
Momenten seines Lebens Schutz bot. Die aber auch sein Anderssein
begründete. Sein nirgendwo Dazugehören, weil er Dinge sah, die
ihnen verschlossen blieben. Weil er fühlte, hörte, wahrnahm mit
allen ihm gegebenen Sinnen. Weil dies sein Wesen und dessen
Besonderheit darstellte, das ihm damals wie heute zum Außenseiter
machte. An diesem wie an jedem anderen Ort seines Lebens.