Meinem Ruf eines leicht
verschrobenen, verstaubten Anachronisten gerecht zu werden, bediene
ich mich gern im Fundus der Gedanken einstiger Geistesgrößen der
Literatur, der Philosophie, der Kunst. Gedanken derer, die in eben
ihren Betrachtungen, Hypothesen und Mutmaßungen, wie sie in ihren
Werken Niederschlag fanden, ihrer Zeit weit voraus waren.
Erkenntnisse und Visionen, die nicht nur deren jeweilige Gegenwart
beleuchteten, sondern auch und besonders auf die Zukunft, also unsere
Gegenwart wiesen. Die Visionen eines Georg Orwell, eines Aldous
Huxley gelten längst als überholt. Gedanken so namhafter
Intellektueller wie Walter Benjamin, Carl von Ossietzky, Berthold
Brecht, Erich Kästner, Hannah Ahrend und vieler anderer unablässiger
Kritiker, Analytiker, Mahnende ihrer Generation erleben wir in
Ausführung, wenn wir uns nur umschauen.
Krieg in Europa.
Moralischer Verfall. Kapitalistisches Denken, das kaum Menschlichkeit
im Machtgefüge des Großkapitals zulässt. Abspaltung, Ausgrenzung
Andersdenkender. Nicht-Schritt-halten-Könnender in dieser uns als
notwendiges Wachstum vermittelten Abwärtsspirale, an deren Ende eine
Gesellschaftsordnung steht, die sich selbst vernichtet. Und über all dem die
Opfer dieses Finanz-Despotismus der Wirtschaft.
Die Opfer derer, die uns
vermitteln, dass nur in stetig steigenden Tendenzen wie unablässiger
Mehrung die Verheißung der Glückseligkeit besteht. „Wahrlich, wir leben in
finsteren Zeiten...“ mahnt Brecht in seinem Gedicht: „An die
Nachgeborenen“. An uns also.
Es ist Weihnachten. Zeit
der Besinnung, der inneren Einkehr, zumindest ab dem Zeitpunkt, da am Heiligabend gegen
14:00 Uhr der Konsumterror verebbt. Das
Fest der Liebe. Der Nächstenliebe. Der Barmherzigkeit, wie sie uns
die Schrift lehrt. Ein Tag, an dem die Kirchen voll sind. An dem man
sich großherzig gibt. Unter dem Kreuz dessen versammelt, der mit
seinem Namen, seinem Martyrium, das er erlitt, gegen all dies ein
Zeichen setzte. Der Widerspruch kann nicht größer sein. Der in
Armut lebte, ideelle Werte predigte, wird angebetet von uns, denen es
an diesem Tag meist um nichts anders geht als sich am reich gedeckten
Tisch zu laben. Sich zu beschenken. Sich dessen zu erfreuen, was man
sich schließlich verdient hat. Zugegeben, Heiligabend in der Kirche
ist ein schönes, ein feierliches Ritual, das dem ganzen zusätzlichen
Glanz verleiht. Den Geist, der hinter all dem steht, muss man ja
nicht so ernst nehmen. Wäre ja noch schöner, ließe man sich das
Festmahl versauen, in Gedenken derer, die frieren an diesem Tag. Die
um ihr Leben oder das ihrer Nächsten bangen. Die sich auf der Flucht
befinden. Die Perspektivlosen, zusammengepfercht in Lagern unter
erbarmungswürdigen Zuständen. Die auf den Schlachtfeldern und
Schützengräben ihr Leben aufs Spiel setzen für etwas, das die
Menschheit, käme sie nur zur Vernunft, längst überwunden hätte.
Die für das Elementarste aller Menschenrechte, die Freiheit, die
Selbstbestimmung auf die Straßen gehen, entschlossen, wortstark, ja,
doch in friedlicher Absicht, und hierin eine Gefahr für Leben und
Gesundheit in Kauf nehmen. Wir aber sitzen im Warmen und Trockenen.
Was geht es uns an? Es geht uns etwas an! „Man sagt mir, iss und
trink du, sei froh das du hast“ schreibt Brecht in dem zitierten
Gedicht. Und weiter: „aber wie kann ich essen und trinken, wenn
mein Glas Wasser dem Verdurstenden und mein Stück Brot der
Hungernden fehlt“.
Mir bleibt das Lachen, der Genuss, der Wohlstand
buchstäblich im Halse stecken.
Alles ist Kommerz. Selbst
die Barmherzigkeit ist kommerzialisiert, wenn karitative Verbände
unter Rekrutierung von Drückerkolonnen, Fundraising neudeutsch, in
den Fußgängerzonen um Spenden bitten, für die sie uns den Ablass
unserer Zeit, die Bereinigung jedes Gewissenkonfliktes verkaufen. Der
verwahrloste Obdachlose in der Passage findet kaum Beachtung. Ein
verwahrlostes Tier in der Gosse gleichwohl.
Ich höre sie fragen: was
willst du denn machen? Sollen wir aus lauter Solidarität in Armut
leben? Ganz sicher möchte ich das nicht. Aber ich möchte, dass wir
zu einem Bewusstsein gelangen, das sich vor allem durch Dankbarkeit
und Demut kennzeichnet. Dass wir wieder beginnen einander
wahrzunehmen. Zu sehen. Verantwortlichkeit gegenüber unserem
Nächsten. Verantwortungsbewusstsein aber auch für unser Handeln und
Tun entwickeln.
Ich wurde dieser Tage aufmerksam auf ein Interview, dass Helmut Schmidt vor vielen Jahren gegenüber der Presse gab. „Es gibt zu viele Menschen auf der Welt“, war die Kernaussage seiner Worte. Endlich mal einer, der es beim Namen nennt, hörte ich weiter: Das Interview wurde geführt, als die Weltbevölkerung etwa 6 Milliarden Menschen betrug. Nach Maßgabe globaler wirtschaftlicher Interessen, deren Erträge nur einem Teil der Menschheit zugutekommen, gibt es zu viele Menschen auf der Welt. Nach Erkenntnissen zahlreicher Studien heißt es hingegen in einem Beitrag des MDR: „Die Ressourcen der Erde sind endlich und ein Ersatzplanet ist auch nicht in Sicht. Die gute Nachricht: Wenn wir das, was wir haben, anders als bisher nutzen, kann die Erde auch zehn Milliarden Menschen ernähren. Die unbequeme Nachricht, die mit dieser Prognose Hand in Hand geht: Das erfordert radikales Umdenken, sowohl, was die Nutzung der Ressourcen unseres Planeten angeht, als auch die Ernährungsgewohnheiten in manchen Regionen.“ Schmidt führte im Rahmen des genannten Interviews weiter aus, dass er angesichts dieser Entwicklung Gefahren für den Westen sehe, die er nicht weiter definieren möchte. Nun gilt auch hier mein Grundsatz: De mortuis nihil nisi bene - man spreche nicht schlecht über Tote. Aber in dieser Aussage Schmidts ist doch alles enthalten. Gefahren u.a. durch Flüchtlingsströme ungeahnten Ausmaßes, wachsende Terrorgefahr der zu kurz Kommenden. Der in Armut Lebenden. Derer, die tagtäglich über die Medien sehen, wie der Westen sich im Wohlstand befindet, während sie selbst nicht wissen, wovon sie morgen statt werden sollen. Kein Wort von einer Weltgemeinschaft, die es gilt zu befrieden, zu ernähren, was möglich wäre, so der Wortlaut der erwähnten Studie. Mit anderen Worten: Was geht es uns an? Hauptsache wir.
Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Ziehen wir kurz Bilanz. Vorherrschende Emotion dieses Jahr war die Angst. Corona ist noch nicht überstanden. Wird es das jemals sein? Angst um den Erhalt unseres gewohnten Lebensstandards. Preise für Kraftstoffe klettern in utopische Höhen. Die elementarsten Lebenshaltungskosten steigen um bis zu 30%. Die Schwächsten trifft es am härtesten. Nicht einmal die Tafel kann mehr umfassende Versorgung leisten. „Es gibt nicht mehr“, so die Aussage einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin. Das was es gäbe, landet in Containern. Wird weggeschmissen. Hinzu kommt Angst vor der Entartung eines Krieges, der das Heiligtum eines seit Generationen befriedeten Europas plötzlich sehr und einmal mehr in Frage stellt. All dies trifft uns, die wir doch nicht Schuld sind an all dem. Ist das so? Wäre es nicht an der Zeit, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen? Ich mag das Wort Schuld nicht. Ich ersetze es gern mit dem Wort „Verursacher“. Wäre es nicht an der Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welchen Anteil jeder Einzelne von uns an diesem Zustand trägt?
Wenn wir unsere Situation bewerten, unabhängig von dem, was uns durch die Medien vermittelt wird. Unser Konsumverhalten ausrichten nach eigenem Ermessen. Eigenen, aus uns selbst ergehenden Bedürfnissen, Wünschen. Wenn sich Zufriedenheit entwickelt an den Werten, die wir haben. Nicht Unzufriedenheit darüber, auf was wir verzichten müssen. Dessen gibt es immer mehr. Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht unablässig in Dauerbeschuss manipulieren lassen durch Hochglanzbroschüren und andere, viel effizientere Werbeformate, vor denen kaum mehr Schutz möglich ist, dann erkennen wir, dass es uns doch gut geht. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Die Heizung schützt uns vor Kälte. Aus dem Wasserhahn fließt wechselweise heißes und kaltes Wasser. Der Kühlschrank ist gefüllt, wenn vielerorts auch nicht mit dem Edelsten, das die Lebensmittelindustrie produziert. Wir müssen auf der Straße nicht um unser Leben fürchten.
Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt in bitterster Armut, weil mindesten ein weiteres Drittel den Sinn für jedes Maß an Verhältnismäßigkeit verloren hat. Nein, wir sind nicht unschuldig an dem, was um uns herum geschieht. Was wir (mit)verursachen, sehen wir Tag für Tag in den Medien. Wir sollten erkennen, dass es der Spiegel ist, der uns vor Augen gehalten wird. Der Spiegel, der uns selbst und unser unbotmäßiges Verhalten reflektiert. Vielleicht besonders zu Weihnachten. Dem Fest der Liebe. Der Nächstenliebe. Der Besinnung.
Wer sich den Luxus leistet, seinen eigenen Verstand zu bemühen, wird früher oder später erkennen, wohin es führt, denken zu lassen. Die es für uns tun, tun es nicht zuletzt auch zum eigenen Vorteil. Zum Vorteil des Machterhalts in der Politik, Zum Vorteil der Mehrung von Kapital und Profit in der Wirtschaft. Zum Vorteil der Selbstdarstellung ihres eigenen Anspruchs, der Stärkung ihrer Position als höchste moralische Instanz, der Kirchen und Konfessionen, die, ich habe es jüngst erlebt anlässlich eines Benefiz-Konzertes in einer katholischen Kirche, um großzügige Kollekte bat, die der Renovierung des Gotteshauses diene. Und glauben Sie mir: es wurde tief in die Tasche gegriffen. Der Ablassbrief kommt dann per Mail? Aber ich erhebe das Wort nicht gegen Institutionen, ohne unser eigenes Verhalten, mein eigenes inbegriffen, immer wieder auf den Prüfstand zu stellen.
Noch einmal: Wenn wir beginnen, unseren eigenen Verstand zu bemühen, werden wir keine Menschen mehr in sinnlose Kriege ziehen lassen. Werden wir uns nicht mehr leiten lassen von hohlwangigen Phrasen derer, die nur durch unser demokratisches Recht auf Mitbestimmung in die entsprechenden Positionen gelangten. Werden wir nicht mehr den Blick abwenden vor Not und Elend auf der Welt. Werden keine Menschen mehr auf der Straße erschlagen, keine Kinder missbraucht, keine Frauen misshandelt, unterdrückt im Sinne einer hirnverbrannten Ideologie.
Es ist das Maß an Verantwortlichkeit füreinander, an das ich unablässig appelliere. Wir profitieren voneinander. Das beinhaltet für mich den unablässigen Versuch, mein Leben nach christlich-sozialen Wertmaßstäben zu gestalten. Martin Luther King sprach einst von seinem Traum von einer befriedeten, in Brüderlichkeit vereinten Weltgemeinschaft. Die Welt, von der ich träume, ist eine Welt des Dialogs. Der Verständigung über alle Grenzen, über alle sprachlichen, konfessionellen, ethischen Barrieren hinaus. Keine Welt, die den Wert eines Menschen an seinem Nutzwert bemisst. Eine Weltgemeinschaft, die sich als solche wahrnimmt. Die im Sinne dessen, den man ans Kreuz schlug, im Sinne Gottes, nenne er sich nun Christus, Allah oder wie auch immer, dass Leben gestaltet.
Vor einigen Jahren wurde in Berlin ein ökumenisches Projekt auf den Weg gebracht. Sein Titel: HOUSE OF ONE. Ein weltweit einzigartiges Projekt, das nicht nur der Verständigung unter den Konfessionen Symbol trägt. Nein, es wird auch praktiziert. Workshops, Gottesdienste, Events werden von Vertretern aller Religionen gemeinsam abgehalten. Gemeinschaftliche Gottesdienste geführt von einem Imam, einem Rabbi und einem Pfarrer.
Solange es Menschen gibt,
die so etwas zu schaffen im Stande sind, Menschen, die sich von
ihren Herzen leiten und nicht indoktrinieren lassen von verblendeten
Tyrannen und Despoten, sich nicht vor Karren spannen und manipulieren
lassen für etwas, das gegen jede Vernunft steht, solange gebe ich
meinen Glauben an die Menschheit nicht preis. Solange glaube ich an
das Gute. Solange werde ich mit meinen bescheidenen Mitteln einen
Beitrag dazu leisten und sei es mitunter nur in einer Geste, einem
Wort oder einer Hand, die man dem reicht, der dieser bedarf.