Immer
noch Ausgangssperre, Einschränkungen vielerlei Art. Soziale
Kontakte, wenn sie überhaupt stattfinden, auf ein Minimum reduziert.
Die sozialen Netzwerke, von Menschen meiner Generation nicht selten
ein wenig misstrauisch beäugt, stellen sich als Segen heraus.
Verlässt der gewissenhafte Mensch sein Haus, tut er es nicht ohne
Achtsamkeit. Nicht ohne den Gedanken an die Zahl derer, die sich bis
zum heutigen Tag infiziert haben. Man sieht es nicht, man nimmt es
mit keinem seiner Sinne wahr und doch ist es existent, nicht zuletzt
durch die mediale Berichterstattung, die seit Wochen kaum ein anderes
Thema zulässt.
Neben
den Unglücksmeldungen aber auch eine andere Beobachtung.
Solidarität. Nächstenliebe. Das Erkennen und das Leben von Werten,
deren Bedeutung in unserer auf Konsum und Wachstum konditionierten
Gesellschaft kaum mehr oder zumindest stark eingeschränkt
existieren.
Menschen
rücken zusammen. Nicht räumlich freilich. Aber man sieht einander.
Man hilft einander. Man steht zusammen gegen einen gemeinsamen Feind.
Eine Solidargemeinschaft entwickelt sich, weil man es nur gemeinsam
schaffen kann.
Natürlich
stellt sich die Frage: Muss so was erst geschehen, um sich dieser
Werte bewusst zu werden? Und schließlich die Frage: Was bleibt, wenn
es vorüber ist?
Wie
lang besteht dieses Solidaritätsgefühl? Die Sorgen umeinander ?
Das Einstehen füreinander? Eine Situation dieser Größenordnung,
dieser Ausdehnung, ist selten. War selten bisher, wobei die
Dimension zunächst gar nicht von Bedeutung ist. Denken wir an
Umweltkatastrophen wie das Elbehochwasser vor einigen Jahren, bei dem
die Menschen scharenweise in Zügen anreisten, um mit helfender Hand
das Schlimmste zu verhindern. Denken wir an Ereignisse wie den
Tsunami in Südostasien, an ganze Landstriche verwüstende Hurrikans
oder die Terroranschläge des 11. September, in denen Menschen
ungeachtet der Lebensgefahr, in die sie sich begaben, in Not Geratene
aus den Trümmern bargen.
Es
sind noch viele Ereignisse und Situation anzuführen die
beispielgebend für das Beste im Menschen stehen. Warum aber bleibt
es nicht? Und ab welchen Zeitpunkt kippt es? Gehen wir zurück zum
Elbehochwasser. Jeder war für jeden da. Als es geschafft war, als
man der Wassermassen Herr geworden war, die vielen die komplette
Existenz nahmen, als die ersten Gelder aus Entschädigungszahlungen
flossen, war in vielen Fällen der gute Geist dahin.
Warum
bekam der eine mehr als der andere? Warum dieser sein Geld
schneller, unbürokratischer als jener? Die Gefahr war vorüber. An
Stelle des Zusammengehörigkeitsgefühls machte sich Neid und
Missgunst breit.
Auch
heute hofft man, dass etwas bleibt von der positiven Energie, die
diese Katastrophe generiert. Wir hoffen, dass es als Warnung
wahrgenommen wird. Als Zeichen gar. „Der Mensch ist des Menschen
Wolf“ heißt es im Text eines römischen Komödiendichters der
Antike. Der Britische Philosoph und Humanist Thomas Hobbes geht in
seiner Analyse dieser Äußerung weiter. Hobbes
Befürchtung über die menschliche Gesellschaft war, dass alle
Menschen von Natur aus böse sein könnten. Demnach ist der Mensch
nur ein Egoist, der überwiegend nach seinem eigenen Vorteil strebt,
nach Erhaltung seiner Existenz und nach dem Besitz möglichst vieler
materieller Güter. Im Naturzustand herrscht daher ein Krieg aller
gegen alle.
Kritiker
von Hobbes´ Philosophie sahen in ihm einen unverbesserlichen
Misanthropen. Einen Menschenfeind, der den Glauben an das Gute
längst verloren hatte. Woraus aber ergeht der Glaube an eine
nachhaltig positive Entwicklung? An Erfahrungen kann man es kaum
festmachen. Zu oft hat die Menschheit im Laufe ihrer
Entwicklungsgeschichte enttäuscht.
Ich
möchte noch ein bisschen tiefer gehen in meiner Analyse menschlichen
Handelns in Extremsituationen. In Extremsituationen, die die
genannten Beispiele der Vergangenheit oder auch die gewärtige
Situation bei weitem in den Schatten stellen. Situationen nämlich,
die unter Umständen ein Handeln erfordern, das die eigene Existenz
gefährdet.
Dem
Passanten, der einen anderen aus einem brennenden Haus rettet, sage
ich kein Handeln aus Geltungsdrang oder dem Motiv der persönliche
Bereicherung nach. Er handelt instinktiv. Dem Nächsten, der seinem
betagten Nachbarn die Einkäufe erledigt, damit dieser das Haus nicht
verlassen muss, ebenso wenig.
Was
aber, wenn niemand mehr etwas hat? Wenn Mangel, ja, wenn eine
Bedrohungslage herrscht, die jedes noch so geringe Handeln für den
Nächsten zur unkalkulierbaren Gefahr für jeden selbst werden lässt?
Ich
denke zum Beispiel an die Gefangenenlager, in denen das Gefühl von
Solidarität systematisch und gewollt zersetzt wurde, weil eben der
zitierte Grundsatz des römischen Dramatikers nur allzu leicht zu
provozieren ist.
Wenn
niemand mehr hat, wenn buchstäblich nichts mehr existiert, fällt
der Mensch in den von Hobbes zitierten Naturzustand zurück, dem
reinen Selbsterhaltungstrieb, der nur noch den Schutz der eigenen
Existenz dient und dies zu erreichen zu einer Handlungsweise
befähigt, die neben diesem Ansinnen nichts mehr zulässt.
Wir
leben weder in dieser noch in einer vergleichbaren Situation.
Mir
fehlt jedoch der Glaube daran, dass der Mensch in Sinne des großen
Ganzen gut ist. Gut also im Sinnen dessen, in jeder Hinsicht
selbstlos und uneigennützig zu handeln.
Hobbes
beschließt seine Analyse des menschlichen Verhaltens mit den
Worten:
„Bellum omnium contra omnes.“ (jeder kämpft gegen jeden)
„Bellum omnium contra omnes.“ (jeder kämpft gegen jeden)
Die humantische Katastrophe, die wir gegenwärtig erleben und deren globale Dimension heute noch nicht absehbar ist, ist auf eine Ausgangssituation zurückzuführen, die sich in Maßlosigkeit, in Gier, in Dekadenz, im Profitdenken und letztlich im Egoismus erklärt.
All
dies sind Grundeingenschaften, nennen wir sie Schwächen, der
menschlichen Rasse. Bis zu einem gewissen Grad mögen diese
Eigenschaften beherrschbar sein.
Früher
oder später aber wird der Mensch wieder in sein triebhaftes
Verhalten, wieder in sein Streben nach mehr und immer mehr, hinter
dem der Verstand und das Verantwortungsbewusst zurückstehen,
verfallen, und so stehen wir wieder am Anfang.