Sonntag, 12. April 2020

„Bellum omnium contra omnes.“ (jeder kämpft gegen jeden)


Immer noch Ausgangssperre, Einschränkungen vielerlei Art. Soziale Kontakte, wenn sie überhaupt stattfinden, auf ein Minimum reduziert. Die sozialen Netzwerke, von Menschen meiner Generation nicht selten ein wenig misstrauisch beäugt, stellen sich als Segen heraus. Verlässt der gewissenhafte Mensch sein Haus, tut er es nicht ohne Achtsamkeit. Nicht ohne den Gedanken an die Zahl derer, die sich bis zum heutigen Tag infiziert haben. Man sieht es nicht, man nimmt es mit keinem seiner Sinne wahr und doch ist es existent, nicht zuletzt durch die mediale Berichterstattung, die seit Wochen kaum ein anderes Thema zulässt.

Neben den Unglücksmeldungen aber auch eine andere Beobachtung. Solidarität. Nächstenliebe. Das Erkennen und das Leben von Werten, deren Bedeutung in unserer auf Konsum und Wachstum konditionierten Gesellschaft kaum mehr oder zumindest stark eingeschränkt existieren.
Menschen rücken zusammen. Nicht räumlich freilich. Aber man sieht einander. Man hilft einander. Man steht zusammen gegen einen gemeinsamen Feind. Eine Solidargemeinschaft entwickelt sich, weil man es nur gemeinsam schaffen kann.
Natürlich stellt sich die Frage: Muss so was erst geschehen, um sich dieser Werte bewusst zu werden? Und schließlich die Frage: Was bleibt, wenn es vorüber ist?
Wie lang besteht dieses Solidaritätsgefühl? Die Sorgen umeinander ? Das Einstehen füreinander? Eine Situation dieser Größenordnung, dieser Ausdehnung, ist selten. War selten bisher, wobei die Dimension zunächst gar nicht von Bedeutung ist. Denken wir an Umweltkatastrophen wie das Elbehochwasser vor einigen Jahren, bei dem die Menschen scharenweise in Zügen anreisten, um mit helfender Hand das Schlimmste zu verhindern. Denken wir an Ereignisse wie den Tsunami in Südostasien, an ganze Landstriche verwüstende Hurrikans oder die Terroranschläge des 11. September, in denen Menschen ungeachtet der Lebensgefahr, in die sie sich begaben, in Not Geratene aus den Trümmern bargen.

Es sind noch viele Ereignisse und Situation anzuführen die beispielgebend für das Beste im Menschen stehen. Warum aber bleibt es nicht? Und ab welchen Zeitpunkt kippt es? Gehen wir zurück zum Elbehochwasser. Jeder war für jeden da. Als es geschafft war, als man der Wassermassen Herr geworden war, die vielen die komplette Existenz nahmen, als die ersten Gelder aus Entschädigungszahlungen flossen, war in vielen Fällen der gute Geist dahin.
Warum bekam der eine mehr als der andere? Warum dieser sein Geld schneller, unbürokratischer als jener? Die Gefahr war vorüber. An Stelle des Zusammengehörigkeitsgefühls machte sich Neid und Missgunst breit.

Auch heute hofft man, dass etwas bleibt von der positiven Energie, die diese Katastrophe generiert. Wir hoffen, dass es als Warnung wahrgenommen wird. Als Zeichen gar. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ heißt es im Text eines römischen Komödiendichters der Antike. Der Britische Philosoph und Humanist Thomas Hobbes geht in seiner Analyse dieser Äußerung weiter. Hobbes Befürchtung über die menschliche Gesellschaft war, dass alle Menschen von Natur aus böse sein könnten. Demnach ist der Mensch nur ein Egoist, der überwiegend nach seinem eigenen Vorteil strebt, nach Erhaltung seiner Existenz und nach dem Besitz möglichst vieler materieller Güter. Im Naturzustand herrscht daher ein Krieg aller gegen alle. 

Kritiker von Hobbes´ Philosophie sahen in ihm einen unverbesserlichen Misanthropen. Einen Menschenfeind, der den Glauben an das Gute längst verloren hatte. Woraus aber ergeht der Glaube an eine nachhaltig positive Entwicklung? An Erfahrungen kann man es kaum festmachen. Zu oft hat die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte enttäuscht.

Ich möchte noch ein bisschen tiefer gehen in meiner Analyse menschlichen Handelns in Extremsituationen. In Extremsituationen, die die genannten Beispiele der Vergangenheit oder auch die gewärtige Situation bei weitem in den Schatten stellen. Situationen nämlich, die unter Umständen ein Handeln erfordern, das die eigene Existenz gefährdet.
Dem Passanten, der einen anderen aus einem brennenden Haus rettet, sage ich kein Handeln aus Geltungsdrang oder dem Motiv der persönliche Bereicherung nach. Er handelt instinktiv. Dem Nächsten, der seinem betagten Nachbarn die Einkäufe erledigt, damit dieser das Haus nicht verlassen muss, ebenso wenig.

Was aber, wenn niemand mehr etwas hat? Wenn Mangel, ja, wenn eine Bedrohungslage herrscht, die jedes noch so geringe Handeln für den Nächsten zur unkalkulierbaren Gefahr für jeden selbst werden lässt?
Ich denke zum Beispiel an die Gefangenenlager, in denen das Gefühl von Solidarität systematisch und gewollt zersetzt wurde, weil eben der zitierte Grundsatz des römischen Dramatikers nur allzu leicht zu provozieren ist.
Wenn niemand mehr hat, wenn buchstäblich nichts mehr existiert, fällt der Mensch in den von Hobbes zitierten Naturzustand zurück, dem reinen Selbsterhaltungstrieb, der nur noch den Schutz der eigenen Existenz dient und dies zu erreichen zu einer Handlungsweise befähigt, die neben diesem Ansinnen nichts mehr zulässt.
Wir leben weder in dieser noch in einer vergleichbaren Situation.

Mir fehlt jedoch der Glaube daran, dass der Mensch in Sinne des großen Ganzen gut ist. Gut also im Sinnen dessen, in jeder Hinsicht selbstlos und uneigennützig zu handeln.

Hobbes beschließt seine Analyse des menschlichen Verhaltens mit den Worten:
„Bellum omnium contra omnes.“ (jeder kämpft gegen jeden)

Die humantische Katastrophe, die wir gegenwärtig erleben und deren globale Dimension heute noch nicht absehbar ist, ist auf eine Ausgangssituation zurückzuführen, die sich in Maßlosigkeit, in Gier, in Dekadenz, im Profitdenken und letztlich im Egoismus erklärt.
All dies sind Grundeingenschaften, nennen wir sie Schwächen, der menschlichen Rasse. Bis zu einem gewissen Grad mögen diese Eigenschaften beherrschbar sein.
Früher oder später aber wird der Mensch wieder in sein triebhaftes Verhalten, wieder in sein Streben nach mehr und immer mehr, hinter dem der Verstand und das Verantwortungsbewusst zurückstehen, verfallen, und so stehen wir wieder am Anfang.