Es
war nur ein kleines Unwohlsein, das mich an diesem Nachmittag zum
Arzt führte. Sicher keine große Sache. Da ich jedoch ein wenig zur
Unsicherheit neige, wollte ich es abgeklärt wissen und nicht
wochenlang in Ungewissheit auf einen Termin warten. Die Helferin wies
mich an, im Wartezimmer Platz zu nehmen.
Ich war der einzige Patient, richtete mich also auf eine eher kurze
Wartezeit ein. Der Raum war angenehm temperiert, was erholsam war bei
der nachmittäglichen Hitze dieses Sommers, die das Quecksilber des
Thermometers schon mal auf Werte um die 35 Grad steigen ließ. Nach
einer Weile betrat ein weiterer Herr den Raum. Er war einer dieser
Menschen, an denen der Blick nicht vorbeigeht. Jemand, der durch was
auch immer die Aufmerksamkeit seiner Umgebung auf sich lenkt. Ein
Typ, würde man wohl sagen, weil man es nicht wirklich mit
aussagefähigen Fakten beschreiben kann. Im Setzen trafen sich unsere
Blicke. Ein Lächeln seinerseits wurde durch mich erwidert. „Hier
bleibe ich“ hörte ich ihn sagen. Er mochte etwa 35 Jahre alt sein,
überdurchschnittlich beleibt, was den Rückschuss zuließ, dass ihm
die Hitze mehr als mir zu schaffen machte. Normalerweise nehme ich
mir eine Zeitung oder ein Buch, sofern ich eines bei mir führe, um
die Warterei ein wenig zu verkürzen. Heute aber war es dieser Mann,
der mich interessierte, wobei ich natürlich bemüht war, mein
Interesse an ihm nicht zu sehr zu offenbaren. Er
saß auf seinen Stuhl in gerader aufrechter Haltung. Die beiden Hände
auf die Oberschenkel gelegt. Ein Blick, der sich im Nichts des
weißen, schmucklosen Raumes verlor. Ein Blick, der nichts fasste,
nichts fixierte. Ein Blick, nach innen gerichtet. So sieht ein Mensch
aus, der denkt. Der auf etwas konzentriert ist, das ihn bewegt. Ein
Mensch, dessen Gedanken und Emotionen zu einer Einheit verschmelzen,
die sich in diesem optischen Eindruck, der sich mir in jenen Minuten
offenbarte, manifestierte. Ich wurde aufgerufen, verließ das
Wartezimmer, wenig später dann auch die Praxis und machte mich auf
den Heimweg. Dem geschilderten Eindruck der Episode schenkte ich
keine weitere Aufmerksamkeit. Es
war ein Fenster, wie ich es immer nenne. Ein verhangenes Fenster in
das Leben eines Fremden. Darüber zu reflektieren, was dieses Leben
ausmacht, schien mir indiskret.
Am
Bahnhof, der gut 45 Gehminuten von der Praxis entfernt liegt,
begegnete ich ihm dann zu zweiten mal. Ich ging zügigen Schrittes,
bemerkte ihn also nicht sofort. Er saß auf einer Bank am Wegrand der
Allee, die zum Portal des Bahnhofes führt. Saß in der gleichen
Haltung, wie zuvor im Wartezimmer. Unsere Blicke trafen sich erneut.
Ich nickte, sagte hallo, setze meinen Weg fort und blieb nach wenigen
Schritten stehen, um mich nach ihm umzuschauen. Die Faszination, die
zuvor von ihm ausging, wirkte immer noch, wenn sie vielleicht auch
nur dem Bild meiner Phantasie, das ich in ihn hineinprojezierte,
geschuldet war. Ich setzte mich neben ihn. Fragte, ob alles in
Ordnung sei, versuchte dabei, nicht zu aufdringlich zu wirken. So wie
zuvor sein Blick ins Nichts verlief, begann er, mich offenbar kaum
wahrnehmend, zu erzählen, wobei erzählen vielleicht nicht das
richtige Wort ist. Ein Erzähler braucht einen Zuhörer. Er sprach
für sich, sicher durch meine Frage angeregt, aber nicht mich
meinend. Zehn, vielleicht zwanzig Minuten hörte ich ihm aufmerksam
zu, ohne selbst ein einziges Wort zu sagen. Wohl
aus Verlegenheit ein paar flüchtige Wünsche äußernd,
verabschiedete ich mich, nahm meinen Heimweg wieder auf, spürte das
sehr positive Gefühl in mir,, einem Menschen zugehört zu haben, dem
ich wahrscheinlich nie wieder begegnen werde. Unwillkürlich
erinnerte ich mich an eine Geschichte, die mir eine mir bekannte
Mitarbeiterin einer Arztpraxis einmal erzählte. Alte Menschen, so
sagte sie, kommen mitunter nur in die Sprechstunde, um nicht allein
zu sein. Konsultieren Ärzte, um jemanden zu haben, der ihnen, und
sei es nur für Minuten, zuhört. Nicht nur alte Menschen sind,
so scheint es, einsam.