Es war im Zug zwischen hier und irgendwo. Was spielt der Ort für eine Rolle? Reisende, hektisches Getriebe, Gepäck, das sanfte Stakkato rhythmischer Geräusche über Stahl gleitender Fahrwerke. Gibt es das noch? Das Geräusch aus Kindertagen, wenn wir mit den Eltern in den Odenwald fuhren? Der Nachtzug. Sechser Abteil. Die Eltern und ich. Drei weitere, fremde Personen auf engstem Raum. Die Sitze wurden zur Schlafenszeit zusammengeschoben. Wie die Ölsardinen lag man Körper an Körper mit Menschen, deren Namen man nicht einmal kannte. Besagter Rhythmus begleitete den bald einsetzenden Schlaf.
Reisen heute ist anders.
Ratio bestimmt das Geschehen. Schnelligkeit. Damals wie heute
zusammengedrängt in Großabteilwagons. Hat man einen Platz
gefunden, wird eiligst der Nachbarsitz mit Gepäckstücken blockiert.
Man möchte ungestört, möchte allein sitzen. Keine überflüssige
Nähe, schon gar keinen Blickkontakt oder gar eine ungewollte
Unterhaltung. Was interessiert es, wenn im Bereich zwischen den
Wagons Menschen auf dem Fussboden sitzen müssen? Die Wagons erster
Klasse sind nahezu leer. Die wenigen Plätze im Bordrestaurant
okkupiert von Kaffeetrinkenden Menschen, die sich an drittklassiger
Bewirtung, an drittklassiger Qualität der Produkte erquicken.
Anonymität, dienstlich verordnete Freundlichkeit des Personals, auf
zweihundertfünfzig Meter ICE.
Im Bereich zwischen den
Wagons, dort wo man sich drängt und schiebt, obschon der Bahnhof
noch nicht erreicht, stand dieser junge Mann. Ein Schwarzer, der sich
nicht nur durch seine Hauptfarbe von den übrigen Reisenden
unterschied. Sein Haar kunstvoll zu Dreadlocks drapiert, seine
Kleidung bequem, bunt. Auf den Ohren trug er Kopfhörer. Er hörte
Musik. Er bewegte sich im Rhythmus der Musik. Wie in Trance wog er
seine Arme, seine Beine, seine Hüften in einer Geschmeidigkeit, wie
sie vielleicht nur Menschen seiner Herkunft zu Eigen ist. Ein
Klischee? Zeitweilig legte er seine Hände in den Nacken, schloss
die Augen, sang leise einen unverständlichen Text. War eins mit der
Musik aus einem elektronischen Gerät, das mit einem Kabel mit einem
anderen Gerät verbunden, auf seinen Ohren sitzend unmittelbar all
seine Sinne stimulierte.
Reisende, die vorbei
huschten, nahmen ihn kaum wahr. Mit der Ankündigung des nächsten
Halts verdichtete sich die Frequenz derer, die sich ihrem Ziel
näherten. Sie sahen ihn tanzen. Er sah niemanden. In seinen
Bewegungen umtanze er sie ohne ihnen jedoch zu nahe zu kommen. Wie
ein sanfter Wind bewegte er sich. Hätte man die Augen geschlossen,
man hätte nichts von seiner Gegenwart wahrgenommen. Mancher fixierte
ihn mit Blicken, hier und da ein Lächeln. Das Lachen eines Kindes.
Zumeist aber wand man sich ab, ähnlich wie im Zuschauerraum eines
Theater, wenn das Geschehen auf der Bühne das Publikum zum Mitmachen
animiert. Man schaute hier und dort hin. Wenn ich nicht sehe, werde
ich nicht gesehen. Nur nicht auffallen, nur keinen Blickkontakt, dann
gerate ich nicht in die Verlegenheit mitzumachen.
Zuweilen tanze er auf der
Stelle. Auf den Lippen ein ewiges Lachen. Man konnte ihn nicht
übersehen und doch sah man ihn nicht. Niemand empörte, niemand
echauffierte sich. Fand sein Verhalten unangemessen. Allein das wäre
zumindest eine Reaktion gewesen. War ich der einzige, der ihn sah?
Existierte er gar nicht? War dies der Grund, warum man nicht spontan
mitmachte? Warum man sich nicht inspirieren, mitreißen, vereinnahmen
ließ von der Musik, die, zwar kaum wahrnehmbar aber noch hörbar,
aus den Kopfhörern floss? Ein Zug voller Menschen. Fremde
Menschen. Zusammengedrängt auf engsten Raum. Tanzend, singend, das
Leben feiernd. Wie dieser Junge.
Niemand tanze, niemand
sang, niemand feierte das Leben. Niemand sah ihn.
Der Zug fuhr in den
Bahnhof ein, die Menschen quollen auf den Bahnsteig. Auch der junge
Mann. Gepäck trug er nicht bei sich. Zügigen Schrittes bewegte er
sich Richtung Ausgang. Ich sandte ihm meinen Blick hinterher, bis
meine Augen ihn verloren.
Es ist zu wenig Musik in der Welt.
Zu wenig Menschlichkeit.
Zu wenig Liebe.
Es ist zu wenig Musik in der Welt.
Zu wenig Menschlichkeit.
Zu wenig Liebe.