Samstag, 5. Januar 2019

War einer, der tanzte



Es war im Zug zwischen hier und irgendwo. Was spielt der Ort für eine Rolle? Reisende, hektisches Getriebe, Gepäck, das sanfte Stakkato rhythmischer Geräusche über Stahl gleitender Fahrwerke. Gibt es das noch? Das Geräusch aus Kindertagen, wenn wir mit den Eltern in den Odenwald fuhren? Der Nachtzug. Sechser Abteil. Die Eltern und ich. Drei weitere, fremde Personen auf engstem Raum. Die Sitze wurden zur Schlafenszeit zusammengeschoben. Wie die Ölsardinen lag man Körper an Körper mit Menschen, deren Namen man nicht einmal kannte. Besagter Rhythmus begleitete den bald einsetzenden Schlaf.
Reisen heute ist anders. Ratio bestimmt das Geschehen. Schnelligkeit. Damals wie heute zusammengedrängt in Großabteilwagons. Hat man einen Platz gefunden, wird eiligst der Nachbarsitz mit Gepäckstücken blockiert. Man möchte ungestört, möchte allein sitzen. Keine überflüssige Nähe, schon gar keinen Blickkontakt oder gar eine ungewollte Unterhaltung. Was interessiert es, wenn im Bereich zwischen den Wagons Menschen auf dem Fussboden sitzen müssen? Die Wagons erster Klasse sind nahezu leer. Die wenigen Plätze im Bordrestaurant okkupiert von Kaffeetrinkenden Menschen, die sich an drittklassiger Bewirtung, an drittklassiger Qualität der Produkte erquicken. Anonymität, dienstlich verordnete Freundlichkeit des Personals, auf zweihundertfünfzig Meter ICE.
Im Bereich zwischen den Wagons, dort wo man sich drängt und schiebt, obschon der Bahnhof noch nicht erreicht, stand dieser junge Mann. Ein Schwarzer, der sich nicht nur durch seine Hauptfarbe von den übrigen Reisenden unterschied. Sein Haar kunstvoll zu Dreadlocks drapiert, seine Kleidung bequem, bunt. Auf den Ohren trug er Kopfhörer. Er hörte Musik. Er bewegte sich im Rhythmus der Musik. Wie in Trance wog er seine Arme, seine Beine, seine Hüften in einer Geschmeidigkeit, wie sie vielleicht nur Menschen seiner Herkunft zu Eigen ist. Ein Klischee? Zeitweilig legte er seine Hände in den Nacken, schloss die Augen, sang leise einen unverständlichen Text. War eins mit der Musik aus einem elektronischen Gerät, das mit einem Kabel mit einem anderen Gerät verbunden, auf seinen Ohren sitzend unmittelbar all seine Sinne stimulierte.
Reisende, die vorbei huschten, nahmen ihn kaum wahr. Mit der Ankündigung des nächsten Halts verdichtete sich die Frequenz derer, die sich ihrem Ziel näherten. Sie sahen ihn tanzen. Er sah niemanden. In seinen Bewegungen umtanze er sie ohne ihnen jedoch zu nahe zu kommen. Wie ein sanfter Wind bewegte er sich. Hätte man die Augen geschlossen, man hätte nichts von seiner Gegenwart wahrgenommen. Mancher fixierte ihn mit Blicken, hier und da ein Lächeln. Das Lachen eines Kindes. Zumeist aber wand man sich ab, ähnlich wie im Zuschauerraum eines Theater, wenn das Geschehen auf der Bühne das Publikum zum Mitmachen animiert. Man schaute hier und dort hin. Wenn ich nicht sehe, werde ich nicht gesehen. Nur nicht auffallen, nur keinen Blickkontakt, dann gerate ich nicht in die Verlegenheit mitzumachen.
Zuweilen tanze er auf der Stelle. Auf den Lippen ein ewiges Lachen. Man konnte ihn nicht übersehen und doch sah man ihn nicht. Niemand empörte, niemand echauffierte sich. Fand sein Verhalten unangemessen. Allein das wäre zumindest eine Reaktion gewesen. War ich der einzige, der ihn sah? Existierte er gar nicht? War dies der Grund, warum man nicht spontan mitmachte? Warum man sich nicht inspirieren, mitreißen, vereinnahmen ließ von der Musik, die, zwar kaum wahrnehmbar aber noch hörbar, aus den Kopfhörern floss? Ein Zug voller Menschen. Fremde Menschen. Zusammengedrängt auf engsten Raum. Tanzend, singend, das Leben feiernd. Wie dieser Junge.
Niemand tanze, niemand sang, niemand feierte das Leben. Niemand sah ihn.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, die Menschen quollen auf den Bahnsteig. Auch der junge Mann. Gepäck trug er nicht bei sich. Zügigen Schrittes bewegte er sich Richtung Ausgang. Ich sandte ihm meinen Blick hinterher, bis meine Augen ihn verloren.
Es ist zu wenig Musik in der Welt.
Zu wenig Menschlichkeit.
Zu wenig Liebe.