Sonntag, 11. September 2016

Weil so was von so was kommt...

Weil so was von so was kommt...

An wenigstens einem Tag im Jahr brauchen sich die Medien keine Gedanken über Themenmangel in der Berichterstattung zu machen. An dem Tag, an dem uns in mittlerweile 15-jähriger Endlosschleife die Bilder des Anschlags auf die Zwillingstürme von Manhattan vor Augen geführt werden. Bilder, die Fragen aufwerfen, auf die niemand eine Antwort hat. Fragen, die nicht einmal gestellt werden. Mit diesem Tag, mit diesem unvorstellbaren Verbrechen, erlangte der Terror, die unkalkulierbare Gefahr aus einer Richtung, aus der man sie in dieser Größenordnung bisher nicht kannte, eine neue Dimension. Schmerz, Lähmung und maßloses Entsetzen waren die unmittelbare Folge. In mittelbarer Folge setzten Kräfte wie unkontrollierte Wut, Hass, Vergeltungs- und Vernichtungswillen ein. Noch am Tag des Verbrechens selbst positionierte sich ein Mann, selbsternannter Lenker der Welt, klein von Wuchs, klein von Geist, groß von Mundwerk, indem er unbarmherzige Härte gegen alles signalisierte, was den verwundeten amerikanischen Geist und die Werte der westlichen Welt in ihren Grundfesten erschütterte.
Die Solidaritätsbekundung europäischer Bündnisstaaten ließ keine 24 Stunden auf sich warten. England sprach vom Blutzoll, den man dem Partner schuldig sei. Eine Frau namens Angela Merkel, der man seinerzeit den Beinamen ­ Bush-Zäpfchen- beimaß, zögerte nicht, sich ins Flugzeug zu setzen, um dem eingangs erwähnten Herrn im Falle eines Wahlsieges der Union uneingeschränkte Unterstützung, nicht nur logistischer Art, zuzusagen. Die UN saugte sich, bereits am Tag nach den Anschlägen, eine eiligst verfasste, höchst umstrittene Resolution aus den Fingern. Und G.W. Bush spitze seinen Griffel, um die Welt einmal mehr in gut und schlecht, streng geteilt durch die -Achse des Bösen-, zu trennen. Die Achse, die die sogenannten Schurkenstaaten per Definition teilte, also Nationen, die sich internationalen Friedensbemühungen – woran auch immer man diese sieht, entgegenstellten. Staaten, die nach Massenvernichtungsswaffen streben. Staaten, die Politik wider den Exportschlager der westlichen Welt, den demokratischen Geist oder zumindest dem, was die USA darunter verstehen, betreiben und sich diesem partout nicht unterordnen wollen. Selbstredend, dass sich die Vereinigten Staaten als Gottes eigenes Land in ihrer Position des Hüters und Werteschmiedes der Welt auf der guten Seite sahen. Ein Land, das es selbst nicht so genau nimmt mit den Menschenrechten.

Am 4. Oktober 2001 setzte sich dann fort, was... nein, nicht was am 11.September desselben Jahres begann. Ein Konflikt, der seit 1978, zunächst durch Besetzung des Landes durch Sowjetische Truppenkontingente begann, und was bis zum heutigen Tag kein Ende gefunden hat: Der Kampf gegen das Diktat der Taliban, das ein Land mit eiserner Hand nach islamistischen Werteprinzipien tyrannisierte, das jede Form von Entwicklung, ob nun wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Art, verhinderte.

Dennoch oder gerade deshalb stellt sich mir die Frage, geben die geschilderten Umstände Dritten das Recht, ein Land mit einem Feldzug zu überrollen, an dessen Ende eine ganze Kultur in Schutt, Asche, Blut und Tränen versinkt? Tod und Vernichtung. Oder sind es am Ende ganz andere Motive, zu denen die genannten nur einen willkommenen Anlass bilden? Solang der Krieg auch und sicher nicht in geringem Maße als Wirtschaftsfaktor und Wertschöpfungskette zu betrachten ist, ist dies zumindest denkbar.
Im Jahr 1993 erschien ein Buch mit dem Titel „Kampf der Kulturen“ des amerikanischen Philosophen und Politik-Wissenschaftlers Samuel Huntington

In der Erläuterung zum Inhalt dieses Werks heißt es: 

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sei die Weltpolitik multipolar und multikulturell geworden, nicht mehr Ideologien sondern Kulturen bestimmten die Weltordnung. Der Westen müsse, um neue weltweite Konflikte zu vermeiden, auch andere kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigen. Es sei ein Irrtum, Modernisierung mit westlicher Kultur oder Verwestlichung gleichzusetzen. Die Werte des Westens würden in anderen Kulturkreisen nicht als universelle Werte anerkannt.“

Allein in diesem Satz liegt für mich eine mögliche Erklärung für das, was am 11.September 2011 und in Folge fast täglich erneut geschieht. Vor 200 Jahren hat man mit Lanze, Feuer und Schwert der Welt das Christentum aufgezwungen.
Was unterscheidet die heutigen Kriege, geführt nach Idealen und Ideologien, die den Gott des Kapitals im Wappen führen, von denen, die den Koran im Sturmgepäck tragen? Niemand ist unschuldig. Niemand hat das Recht, das Schwert gegen Dritte zu führen. Nicht nach Maßgabe wie es heute geschieht, wie es damals geschah und wie es vermutlich in aller Zukunft geschehen wird.
Der Feldzug, den der texanische Kuhhirt aus Washington führte, setzt den 3000 Opfern des Anschlags von New York eine Zahl entgegen, die diese um das hundertfache übertraf.
Eine Studie, die der Spiegel vor einiger Zeit veröffentlichte, spricht von weit über 80.000 zivilen Opfern allein in Afghanistan. Nimmt man die angrenzenden Nationen, die in diesen Krieg involviert sind, zusammen, sprechen die Zahlen von 250.000 zivilen Opfern.
4000 US Soldaten verloren ihr Leben. 57 Bundeswehrsoldaten starben, z.T. bei Anschlägen, z.T. im Gefecht.

Und der internationale Terrorismus, dem man so martialisch den Kampf ansagte, hat eine Präsenz erlangt, die weite Teile unseres Lebens nicht nur durch die täglichen Meldungen in den Medien, also aus 2. Reihe, sondern auch durch sehr real geworden Angst in 1. Reihe bestimmt.

Wir gedenken jedes Jahr am 11. September der Toten von New York. Wer gedenkt derer, die in diesem -sauberen Krieg- durch alliiertes Hand das Leben verloren? Sie waren so unschuldig wie die, die an jenem Tag ihren Arbeitsplatz aufsuchten um abends nicht mehr heimzukehren.

Nur ein Beispiel möchte ich nennen, das für mich bezeichnend ist für die Verbrechen, die in Folge auf 09/11 geschahen. Verbrechen durch staatlich legitimierten Terror durch offizielle Streitkräfte.

Am 4.September 2009 befehligte ein hoher Militär, Oberst G. Klein, damals in Position des verantwortlichen Offiziers des Feldlagers Kundus, einen Einsatz, der 140 Menschen, größtenteils Frauen und Kindern, das Leben kostete. Zwei Tanklastzüge, ursprünglich von Kräften der Taliban entführt, möglicherweise zum Zwecke, mit diesen Anschläge zu verüben, steckten, 4 km vom Lager entfernt, nicht mehr fahrfähig im Wüstensand fest. Eine Bedrohungslage. Eine jedoch, die der offensichtlich völlig überforderte Befehlshabende nicht einzuschätzen im Stande war. Stunden später existierten weder die LKWs noch die Gruppen von friedlichen Zivilisten, die sich in unmittelbarer Nähe der Lastzüge aufhielten, um sich an deren Fracht zu bedienen. Eine Gefährdung der Sicherheit des Lagers war, nach offiziellen Statements unabhängiger Gutachter, zum Zeitpunkt des Bombardements, des Mordes oder der billigenden Inkaufnahme der Vernichtung 100fachen unschuldigen Lebens, längst nicht mehr gegeben. Der fachlich gängige Begriff hierfür nennt sich Kollateral- oder Begleitschaden.

Eine in Folge dieses Verbrechens, ja ich nenne es so, einberufene Untersuchungskommission entschied später in Berlin, dass dem Offizier kein Fehlverhalten nachzuweisen war. Eine Klage von betroffenen Angehörigen, die jüngst vor einem deutschen Gericht auf Entschädigung hofften, wurde abgewiesen. Wer gedenkt ihrer? Oberst Klein wurde mittlerweile zum Brigadegeneral befördert. Mit der Zeit wird man schon vergessen, was damals geschah.

All dies im Kampf gegen eine Form von Bedrohung, die erst durch Hysterie und organisierte, staatliche Gewalt zu dieser Dimension weltweiter Bedrohung gelangte? Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das lernt jedes Kind in der Schule. Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Anderslebenden, Andersaussehenden lehren wir unseren Kindern.

In Frankreich und Belgien fallen ausgelassen feiernde Menschen Anschlägen zum Opfer, während man in Paris am Nationalfeiertag auf der Champs Elysees waffenstarrende Paraden abhält. Politiker, wie jüngst Marie Le Pen, stellen sich, Kampfformeln wie „zu den Waffen Brüder“ skandierend, vor das Volk und machen verbal mobil gehen alles, was ihrer politischen, gesellschaftlichen Ordnung widerspricht.

Ist das unsere Vorstellung von einer befriedeten Weltgemeinschaft? Provokation? Unverantwortlicher Umgang mit Werten wie Presse- und Informationsfreiheit, wenn man bewusst provoziert mit Mohammed-Karikaturen und Verunglimpfung des Islams? Alle Welt war Charlie, gleich einer Herde blökender Schafe. Es geht nicht darum, sich Einschränkungen zu unterwerfen. Es geht um Sensibilität! Dann nämlich, wenn man durch sein Tun Gefühle bewusst verletzt. Wenn man durch dieses Tun nicht nur sich selbst gefährdet, sondern Gefahr läuft, einen Flächenbrand unvorstellbaren Ausmaßes auszulösen. Von den Werten unserer Gesellschaft ist die Rede, die es zu erhalten gilt. Worin liegen denn diese Werte? In der Befriedigung unbegrenzter Konsumsucht? Jeder kann alles in unbegrenztem Maß und zu jeder Zeit haben? In Unmoral und Dekadenz? Wenn wir nicht sehen wollen, schauen wir einfach weg. Was interessiert uns der Nächste? In dem Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Brecht heißt es: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast zu einem Verbrechen wird, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt...?“

Wie es jenseits unseres Horizontes aussieht, sehen wir beim Abendessen in der Tagesschau mit aufgesetzter Betroffenheitmine. Im Spielfilm danach ist es bereits wieder vergessen. Die Stimmung möchte man sich ja doch nicht verhageln lassen. Wir haben es uns ja schließlich verdient.

Solange dies die Werte sind, die auch am Hindukusch zu verteidigen sind, wie es ein Herr Struck einst so vollmundig protokollierte, solange die Parlamentarier der Welt vordergründig im Interesse korrupter Kapitalisten statt im Sinne derer handeln, die am Ende die Zeche zahlen, erteile ich diesem Wertesystem eine deutliche Absage.

Unsere Gesellschaft verfällt zunehmend einem Nationalismus, der an Zeiten erinnert, die als überwunden galten. Spaltet sich über das Tragen von Kleidungsstücken wie Kopftuch, Burka oder Burkini. Vermutet hinter jedem am Boden stehenden Rucksack einen Sprengsatz sowie hinter jedem Schleier einen Selbstmordattentäter. Ausgewiesene Feministen, ob nun männlichen oder weiblichen Geschlechts, möchten jeder Frau, die ein Kopftuch trägt, dieses am liebsten vom Haupt reißen, stellt es ihrer Meinung nach schließlich ein Symbol weiblicher Unterdrückung dar. Flüchtlingsströmen aus den genannten Nationen wird pauschal mit Argwohn und Generalverdacht begegnet. Kürzlich las ich in einem Leserbrief dieser Zeitung die Worte eines geistig offenbar sehr beschränkten Herrn, der die zahlreichen Einsätze von Polizei und Feuerwehr in Flüchtlingsunterkünften bemängelte. Diese Institutionen seien schließlich vordergründig für die deutsche Bevölkerung zuständig, so seine Worte. Wer schützt uns eigentlich vor derartigem Ungeist bzw. geistiger Brandstiftung dieser Art?

Nochmal, nichts ist verächtlicher als Gewalt, welches Motiv dem auch immer zugrunde liegt. Vor 3 Jahren erregte eine junge Frau mit einer Rede vor den Vereinten Nationen großes Aufsehen. Malala Yousafzai. Monate zuvor wurde Sie durch einen Mordanschlag der Taliban lebensgefährlich verletzt. Kein Hass, keine Rachebeschwörungen und kein Kriegsgeheul beinhalteten ihre Worte. Stattdessen ein Appell an Nächstenliebe, Vergebung und Verständigung zwischen den Nationen, zwischen den Religionen, zwischen den Wertegemeinschaften der Welt.

Es wird immer Kräfte geben, die ihren Ideologien mit der Waffe in der Hand Nachdruck verleihen werden. Aber es ist eine Minderheit, der der gesunde Menschenverstand etwas entgegenzusetzen hat. Und dazu bedarf es bestenfalls der Waffe des Wortes und der Bildung.