Montag, 4. April 2016

Geht es noch um Demokratie und Meinungsfreiheit?

„Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen
In die Kasernen der Vergangenheit
Glaubt nicht, dass wir uns wundern, wenn ihr schreit
Denn was ihr denkt und tut, das ist zum Schreien…“

Sie tragen wieder Fackel und Fahnen vor sich her. Sie folgen wieder allzu willig Aufrührern, Brunnenvergiftern und Despoten mit ihren geistzerfressenden Thesen, wenn diese mit geballter Faust in düster-feierlichem Pomp die Verheißung vorhersagen. Rädelsführern, die wissen, wie man mit rhetorischem Geschick die Massen gewinnt für ihre auswüchsigen Ideologien. Wenn sie wortgewaltig und provokativ Begriffe wie „unser 1000jähriges Deutschland, unsere deutsche Kultur, Rassen- und Religionsreinheit“ skandieren. Sie, die in der Beschränktheit der zumeist bildungsfernen Schichten so fruchtbaren Boden finden, weil diese sich so gern vergiften lassen. Weil sie sich plötzlich verstanden und vertreten fühlen von Geistern, die in ihrer Vision eines Gesellschaftsbildes das Rad der Geschichte so gern zurückdrehen würden. Weil sie in der Kleingeistigkeit ihrer bürgerlichen Existenzen plötzlich wahrgenommen werden. „Deutschland den Deutschen“ tönt es aus Dresden und Erfurt. Tönt es aus den Mündern derer, die noch vor 25 Jahren für Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte auf die Straße gingen. Längst baut man wieder Mauern, durchzieht Europa erneut mit Stacheldraht. Lässt Schiffe an den Außengrenzen Europas kreuzen. Lässt Militär an den Grenzen Stellung beziehen. Bayern spricht von Maßnahmen der Notwehr. Es gelte sich zu schützen vor den Schutzsuchenden, so die Worte Seehofers.
Jüngst jährte sich zum 20. Mal die Verurteilung der Attentäter des Brandanschlages von Solingen, bei dem Anfang der 90er Jahre fünf Menschen ums Leben kamen. Es folgten Anschläge auf Einrichtungen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Eberswalde … Zu keinem Zeitpunkt nach Ende der NS-Tyrannei in Europa gab es vergleichbare Gewalt gegenüber Mitbürgern ausländischer Herkunft. Fortan sollte diese Entwicklung eine stete Steigerung erfahren. Im Jahr 2014 registrierten die Strafverfolgungsbehörden rund eintausend rechtsmotivierte Straftaten. Im ersten Halbjahr 2015 waren es bereits zweitausend zu verzeichnende Übergriffe und Verbrechen.
Geht es noch um Demokratie und freie Meinungsäußerung, wenn PEGIDA-, AFD-, DVU-, NPD-Anhänger mit Galgen und Guillotine, wie jüngst in Dresden und auf dem Pariser Platz in Berlin,
ihre Missbilligung der Regierung konstatieren? Das ist nicht mal mehr als geschmacklos zu benennen. Das ist offener Aufruf zu Hass und zügelloser Gewalt gegen bestehende rechtsstaatliche Strukturen und Institutionen, die mit aller gebotenen Härte des Gesetzes zu ahnden sind. Wir hören Redner in Dresden, die unverhohlen ihr Bedauern äußern, dass nationalsozialistische Massenvernichtsungslager nicht mehr in Betrieb sind. Worte eines Mannes, man lese und staune, türkischer Herkunft, Autor zahlreicher Bestseller, gegen den aufgrund einer einzigen anonymen Strafanzeige nun ermittelt wird. Von Lutz Bachmann, dem politisierenden Kleinkriminellen und Anführer der PEGIDA-Bewegung, war zwar zunächst eine Distanzierung zu diesem Redner zu vernehmen. Wenig später jedoch fiel dieser erneut auf, als er in seinem Facebook-Profil das Foto eines beliebten „braunen“ Brotaufstrichs mit eingefügten NS-Symbolen veröffentlichte.
Ich bitte um Entschuldigung, aber was muss hier denn noch ermittelt werden? Ebenso kündigte man entsprechende Überprüfungen der genannten Gruppierungen und Parteien an, ob hier der Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 StGB erfüllt ist. Ja geht es noch? Was muss denn geschehen, damit man begreift, welche Gefahr von diesen Elementen ausgeht? Der Bundesvorsitzende der NPD, Udo Pastörs, betreibt ungehindert antisemitische Hetze in Reinkultur, wenn er von Deutschland als Juden-Republik spricht und so mit Wesenszügen Goebbelsscher Rhetorik seine Hasstiraden unters Volk mischt. Mit Worten, wie „Kämpfen wir mit Herz, Verstand und wenn es sein muss, mit der Hand!“, ruft er offen und ungehindert zur Gewalt auf. Meine Frage an die ermittelnden Behörden, was hätten sie denn gern, das man ihnen auf dem silbernen Tablett serviere?
Ich kann meine Verachtung vor Menschen, wie den genannten, gar nicht ausreichend in Worte fassen. Selbst in unserer Stadt begegnet man ähnlichen Entwicklungen, wenn ich selbst Tag für Tag ertragen muss, wie ein ewig gestriger Kleingeist seinem erbärmlichen Nationalstolz auf keine andere Weise Ausdruck verleihen kann, als durch die reichsdeutsche Flagge: Schwarz-Weiß-Rot, die, feierlich umrahmt von Zierspringbrunnen und Gartenzwergidyll dessen Vorgarten ziert. Wie von dem Facebook- Profil eines Hanauer Unternehmers ein Kinderfoto Adolf Hitlers prangt. Wie eine Leserbriefschreiberin vor einigen Wochen zu bedenken gab, dass Deutschland ja doch den Deutschen vorbehalten sei bzw. vor möglichen Gefahren durch radikale Islamisten und Schläfer warnte, die mit dem Flüchtlingsstömen
ins Land geraten könnten. Die Flüchtlinge täten ihr ja schon leid, aber…
Um es mit Max Liebermanns Worten zu sagen: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“
Begriffe wie Asylmissbrauch, illegale Einwanderung, gewaltsame Übergriffe auf die so friedliebende Bevölkerung, Angst von Frauen, die sich bei Dunkelheit nicht mehr auf die Straße wagen, Drogeneinfuhr, Überfremdung etc., kursieren in der Öffentlichkeit. Gefahr sehe ich vielmehr in den eingangs genannten Zahlen der rechtsmotivierten Straftaten, die, setzt man sie ins Verhältnis zu islamistischen Übergriffen, lediglich einen Promille-Wert ergeben. Aber dies ist für Menschen, dessen Informatiosanspruch sich in den geistigen Niederungen eines groß bebilderten Medienorgans befriedigt, kaum zu erfassen.
Wir haben es uns schließlich verdient. Ein reiches, ein schönes Land. Wer will da kommen und Anspruch auf unsere Werte erheben? Das wäre ja noch schöner!“ Worauf sich unser Reichtum jedoch gründet: Unsere Gier nach immer mehr Wohlstand, den wir durch immer höhere Mauern und Zäune zu sichern versuchen, ist nicht von Bedeutung. Das wiederum würde ja den Blick über die Grenzen hinaus erfordern. Oder auch nur den Blick in den Spiegel. Zugegeben, es kann zu unangenehmen Erkenntnissen führen. Da schaut man doch lieber weg, vergräbt seinen Blick in Hochglanzbroschüren und Versandmagazinen. Sein schlechtes Gewissen befriedigt man mit einem herzzerreißenden Ach … und Oh …, wenn abends in der Tagesschau die Bilder der realen Welt ins Wohnzimmer gelangen. Sich davon jedoch den Appetit beim Abendessen verderben lassen? Wirklich nicht! Der unermessliche Reichtum der westlichen Industrienationen fußt nicht zuletzt auf der Armut der Menschen, die heute zu Recht Anspruch auf einen Teil dessen anmelden, was wir für selbstverständlich erachten. Wofür wir längst den Blick und das Bewusstsein verloren haben.
Stellt sich mir am Ende die Frage, warum begehrt man auf gegen diesen Ungeist? Sie sind ja doch nicht zu belehren. Weil man weiß, worin es enden kann? Aus Angst, dass sich die Geschichte wiederholt? „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Soweit die Gedanken von Karl Marx.
Wenn es nur eine Farce bliebe. Das weitgehende Schweigen und die Tatenlosigkeit der Staatsgewalten scheinen sich in dem Glauben daran zu erklären. Hoffen wir, dass wir nicht eines Besseren belehrt werden. Das Schweigen vor einer offensichtlichen Entwicklung, die Kapitulation am Ende vor der beginnenden Apokalypse, die vor drei Generationen schließlich in Völkervernichtung und Zivilisationsbruch endete, hat uns gezeigt, was geschieht, wenn Kräfte sich sammeln und entarten. Aber wo wären wir, wenn uns nicht der Glaube an die Vernunft und an das Gute und Versöhnliche im Menschen bliebe?

Kästners Gedicht, das ich eingangs zitierte, endet mit folgenden Worten:


…Wie ihr's euch träumt, wird Deutschland nie erwachen
Denn ihr seid dumm und seid nicht auserwählt
Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt:
Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!