Freitag, 2. August 2024

Für Klaus

Irgendwie war unsere Zeit eben unsere Zeit. Nicht, weil man das Leben noch vor sich hatte. Soweit dachten wir gar nicht. Wie waren mehr jetzt als morgen. Glaube ich.

Wir hatten keine Handys und kein Internet. Wie hatten billigen Rotwein und Baccardi. Wir hatten Angst vor Atomkrieg und Tschernobyl. Selbst die Angst war konkreter. Überschaubarer. Berechenbarer. Wir verstanden aus wenig etwas zu machen, das wir dann als Lebensqualität empfanden, ohne das Wort zu kennen. Wir verliebten uns alle paar Woche in ein anderes Mädchen. Alle paar Wochen für immer. Der Feind war das Establishment. War, politisch gesehen, das, was in den täglich Nachrichten zweier Fernsehprogramme über die Bildschirme der Röhrengeräte, Schwarz/Weiß, flimmerte. Nena sang ihren visionären Hit von 99 Luftballons und keiner verlor einen Gedanken daran, dass so was mal von so was kommen kann. Es war irgendwie ... anders. Mancher, Anarchie in sich spürend, sich Gedanken machend, radikalisierte sich. Oder doch nur der Radikalisierung, des offenen Protestes halber? Klaus besetzte Häuser in der Hafenstraßen. Andere machten kaputt, was uns kaputt machte.

Wie anderen waren einfach nur cool, ohne jeden ideologischen Gedanken.

Holger war der erste, der ein Mofa besaß. Morgen war so weit weg. Morgen war bestenfalls die nächste Klassenarbeit. Der nächste blaue Brief an die Eltern, wenn es mal wieder schief ging. Morgen war die nächste Standpauke des Alten, der es gut mit uns meinte und in diesem Meinen gern auch mal zuschlug. In der Öffentlichkeit kursierte der Begriff der Null-Bock.Generation. Jugendarbeitslosigkeit. Perspektivlosigkeit.

Manchem schien der Dienst an der Waffe, der Pflichtwehrdienst bei der Bundeswehr, der rettende Anker vor der gänzlichen Verwahrlosung, um beim Jargon der Alten zu bleiben.

Mobilmachung gegen die Bedrohung aus dem Osten. Gegen den Klassenfeind, aus westlicher Perspektive. Machten wir uns wirklich Gedanken? Wir waren nicht politisch. Wir rissen unsere 15 Monate ab. Mit Spindluder und Maßband an der Stubentür. Wir lernten Händchen an die Mütze halten und den Mund zu halten. Ließen uns scheuchen von bellenden Vorgesetzten, ihrerseits selbst oft genug gescheitert an der zivilen Wirklichkeit, die wir noch vor uns hatten. Übten in Reih und Glied zu marschieren, Waffen reinigen und Schießen. Drei Schuss auf dem Schießstand genügten für den Grundsatz, in diesem Leben keine Waffe mehr in die Hand zu nehmen. Wir taugten nicht zum Patrioten. Wir waren nichts und niemand, im besten Wortsinn. Waren aus Sicht der Vorgesetzten der Grund, an dem dieses Land scheitern würde in seinem entschlossenen Kampf gegen den Bolschewismus, wenn man sich dieser Formulierung auch nicht mehr bediente. Irgendwie fühlte ich mich nicht bedroht.

Ich glaube, wie boten in unserer Unbedarftheit noch keine Projektionsfläche für Hass, für Kampfbereitschaft und erst recht nicht für die ungeheure Disziplin, die man uns durch das Antrainieren sorgfältig gemachter Betten vermitteln wollte. Trugen in uns keine hündisch devote Bereitschaft, diese unter gewissen Umständen jeder Zeit abrufen zu können. Sahen im Dienst in der Armee nicht die Glückseligkeit, die man heute in den Gesichtern derer lesen kann, die von den großformatigen Werbeplakaten mit mörderischen Waffen in der Hand keinen anderen Sinn im Leben zu sehen scheinen, als für dieses Land wieder in den Krieg zu ziehen.

Wie wollten einfach nur leben.

Mit dem Mofa oder dem ersten Opel Manta, auf dem Beifahrerseite die blonde Perle, den Tag unser sein lassen. Wie waren die goldenen Reiter auf dem Weg in die Nervenklinik vor den Toren der Stadt. Der Zukunft.

Heute schauen wir aus der Perspektive unserer eigenen Erinnerungen auf die Jugend und gelangen zu der Erkenntnis, dass es etwas Tröstliches in sich birgt, nur noch über einen verhältnismäßig überschaubaren Rest an Lebenszeit zu verfügen.





Sonntag, 28. Juli 2024

"Wer zählt die Völker, nennt die Namen..." (Schiller)

Es geht längst hinaus über den antiken olympischen Geist. Längst ist es zu einem überdimensionierten Medienspektakel, einem Politikum, einem kommerziellen Ereignis ohnegleichen entartet.

Doch über all dem ist es vielleicht doch noch das, was den Olympischen Spielen der Antike zugrunde lag, nämlich: „Alle Völker in friedlichem Wettstreit zusammenzuführen.“ Oder wie es der Präsident des Organisationskomitees der Olympischen Spiele von Paris – Tony Estanguet - formulierte: „Es gibt einen Ort, an dem alle Nationen und Religionen der Welt friedlich zusammen sind: Olympia.“ Und um es abzurunden, die Worte des Begründers der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin: „Das Wichtigste an den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme, wie auch das Wichtigste im Leben nicht der Sieg, sondern das Streben nach einem Ziel ist.“

Dem entgegen steht ein anders Bild. Das Bild, das uns 45.000 Polizisten und 10.000 Soldaten vermitteln, die die Stadt zu einer Festung ausbauten. Ist dies noch verhältnismäßig? Vermittelt wird das Bild einer allgegenwärtigen Bedrohung. Ist diese wirklich gegeben? Schürt dieses Aufgebot martialischer Sicherheitskräfte derartiger Dimension allein nicht Hass, Gewaltbereitschaft und Ausgrenzung? Tatsächlich leben wir in dieser omnipräsenten Bedrohungssituation. Kriege in Europa, dem Nahen Osten. Iran, Palästina, Israel. Sie überschatten unser tägliches Leben. Unseren Alltag. Und schlussendlich auch die Olympischen Spiele.

Und doch kann und will ich nicht glauben, dass die Antwort, die man auf diese Bedrohung gibt, die Lösung beinhaltet bzw. der Situation zuträglich ist. An die 210 Staaten umfasst das Gefüge der Welt. Rund 30 Staaten befinden sich laut Gutachten der Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Konfliktursachenforschung anhaltend im Kriegszustand. Die Zahl der an den Spielen teilnehmenden Nationen umfasst etwa denselben Wert. 204 Nationen kämpfen gegeneinander. Kämpfen um Siege, um Medaillen. Und überdies leben sie in friedlicher Gemeinschaft Seite an Seite. Bilden eine Einheit im Sinn dessen, was ich anfangs zitierte.

Es ist der Geist Coubertins. Es ist die Vision Martin Luther Kings, der die Völker der Welt zusammen an einem Tisch sitzen sah. Es ist die Botschaft Mahatma Gandhis und seiner „Konzeption des gewaltlosen Widerstands“, die am Ende ans Ziel führt. Und es ist die unbedingte Aufgabe der Generationen, der Völker, dies über die Zeit der Olympischen Spiele hinaus in die Welt zu tragen. Wir können es als Menschheit nur gemeinsam schaffen, sagt der Philosoph Erich Fromm. Nur wenn wir beginnen, uns als Welt- und Wertegemeinschaft zu verstehen. Nur im globalen Denken, das sich weder an Ethnien, an Ideologien noch an Staatsgrenzen bricht, und dies unter Einbeziehung aller Faktoren, also nicht nur im Sinne wirtschaftlicher Interessen, kann es funktionieren.

Nicht die Ideologen, die Demagogen, nicht die Spötter unter den Lesern dieses Beitrags werden recht behalten. Ihrer halsstarrigen Phrasen bedarf es nicht. Es bedarf der Ideale, der Visionen und der Träume von Menschen wie

den angeführten. Und es bedarf des Mutes jedes Einzelnen, für diese einzustehen. Vielleicht sogar ein Stück weit der Unbekümmertheit und Naivität eines kindlichen Verstandes, der noch nicht unterscheidet nach Status, Herkunft und Religion. Besonders aber bedarf es der Vernunft und des Verstandes kritischer Geister, die nicht müde werden zu mahnen. Die ihren Blick nicht abwenden. Nicht wegschauen, weil es bequemer ist.
Das Streben nach einem Ziel, laut Coubertin, im Sinne eines sportlichen Wettkampfes, lässt sich ohne weiteres übertragen auf andere Inhalte:
Das Ziel einer befriedeten Weltgemeinschaft gemäß unseres ureigenen Wunsches nach Frieden und Liebe, sowohl in der kleinsten gesellschaftlichen Einheit wie auch unter den Nationen und Völkern. Frieden und Liebe, frei von Niedertracht, Neid und Missgunst.

16 Tage dauern die Spiele von Paris. In der Antike herrschte während der Zeit der Spiele der sogenannte Olympische Friede. Es wäre wünschenswert, dies zu übernehmen. Und dann einfach vergessen, die Waffen wieder aufzunehmen.
Coubertins Idee war es, als er sich 1894 entschloss, die Olympischen Spiele der Neuzeit nach altem Muster zu begründen, die nationalen Egoismen dauerhaft zu überwinden und für internationale Verständigung einzutreten. Nach seiner Auffassung sollte sich die „Jugend der Welt“ lieber in sportlichen Wettkämpfen messen als sich auf dem Schlachtfeld zu bekriegen.

Dass es bislang kaum gelang, liegt nicht an Despoten, Autokraten und der Eitelkeit narzisstischer Tyrannen. Es liegt nicht an der Politik, der wir so gern das Maß an Verantwortung zuweisen, dem wir selbst außerstande sind zu genügen. Es liegt an jedem einzelnen von uns selbst.


Dienstag, 28. Mai 2024

Versuch über die Freiheit

Ich traf sie in Zug. Sie unterhielt sich mit einem weiteren Reisenden, der sie aber kaum verstand. Mit einem jungen Mann fremdländischer Herkunft. Ein paar Floskeln, ein zustimmendes Nicken hin und wieder. Die Situation schien ihm unangenehm. Das Gespräch, wenn man es so nennen konnte, fand im Eingangsbereich des Waggons statt. Der Zug näherte sich dem Bahnhof. Immer wieder schaute er hinaus, den Halt des Zuges, das Öffnen der Tür, den Moment herbeisehnend, der ihn aus dieser misslichen Lage befreite.

Sie nahm sich aus vom Bild der üblichen, ohne ständigen Wohnsitz Lebenden. Auf dem Rücken ein offenbar sorgfältig gepackter Rucksack. Kleidung und Schuhe leicht verschlissen, doch in einem halbwegs annehmbaren Zustand. Wenn auch sehr mitteilsam, so schien dies doch nicht aus übermäßigem Alkoholkonsum zu resultieren. Die Reihe ihrer Frontzähne wies eine Lücke auf. Die Wangen eine Spur eingefallen. Ihre Augen in tiefen Rändern liegend, die den Rückschluss zuließen, dass sie übernächtigt war. Dennoch: Ihr Wesen lebhaft und wach. Ihre Ausdrucksweise klar und präzise. Ich hörte sie ins Nichts sagen, dass ihr wohl eine erneute Nacht auf dem Bahnhof bevorstünde. „Wieder eine Nacht auf dem Bahnhof. Na, da kommt Freunde auf.“

Ich beobachtete Sie mit angemessener Diskretion. Betrachtete sie aus der Perspektive der Komfortzone, in der ich selbst lebe. Eine nach meinem Geschmack eingerichtete 3-Zimmer-Wohnung. Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlaf- und Gästezimmer. Eine gewisse soziale Sicherheit durch ein regelmäßiges Einkommen. Ich empfinde meinen Status nicht als vermögend, doch als ausreichend bis zufriedenstellend. Werte, die einem Menschen, der auf der Straße lebt, nicht oder allenfalls bedingt zuteil sind. 
Fiel sie in diese Kategorie? Für einen Moment dachte ich daran, sie zu fragen, ob ich ihr diesen Standard für eine Nacht, für einen begrenzten Zeitraum anbieten könne. Ihr das Bad zur Verfügung stellen. Die Küche, incl. eines ausreichend gefüllten Kühlschrankes. Eine Waschmaschine, in der sie ihre Kleidung hätte reinigen können. Das Gästezimmer mit einem frisch bezogenen Bett. Ein Dach über dem Kopf. Eine Ausgansposition, für einen möglichen Wiedereintritt in die Gesellschaft.

Der Gedanke hielt mich für einige Sekunden gefangen. Könnte ich ihr vertrauen? Ich verbot ihn mir. Ich hätte mich von meinem Gefühl lenken lassen. Und schließlich: Welches Risiko birgt es für mich? Eine Frage, ein Risiko, das für sie von ähnlicher Dimension wäre. Sie interessierte mich. Ein Mensch, dessen Leben nach anderen Maßständen verläuft als das einer durchschnittlich bürgerlichen Existenz wie meiner. Schließlich ließ ich ab von diesem Einfall. Es ergab sich auch kaum die Möglichkeit, sie auf dieses Unterfangen anzusprechen. Kaum, dass sich die Türen des Wagons öffneten, war sie verschwunden im Menschengetriebe des überfüllten Bahnsteigs. Der Gedanke aber begleitete mich noch eine Weile.

Freiheit stand über ihm.

Fühle ich mich frei in diesem engmaschig gewobenen Netz sozialer Sicherheit, das uns in fast jeder Lebenssituation auffängt? Das uns Fallstricke und doppelte Böden bietet, damit nicht das passiert, wovor wir in der Öffentlichkeit zumeist die Augen verschließen? Den Blick abwenden? Ist ein Mensch wie sie, der sich all dem entzieht, dessen Besitz Platz findet in einer Reisetasche und einem Rucksack, der das geringstmögliche Maß an Kapital, das er benötigt, um sich auf dieser untersten Stufe einer Existenz über Wasser zu halten, durch Flaschensammeln erwirbt, vielleicht sogar freier?

Ist man frei in einer Situation, die man erfährt, wenn man in den Supermärkten unter 50 verschiedenen Brotsorten, wohlsortiert auf 20 Regalmetern, auswählen muss? Wenn die Produktpalette von all dem, das man für Geld werben kann, von Tag zu Tag breiter wird, sodass sie für den normal gearteten Verstand kaum mehr zu erfassen ist?

Ist man frei, wenn man zwar tun und lassen kann, was man will, das, was man will, aber weitgehend fremdbestimmt ist durch unablässige Bebilderung, Beschallung, gezielte Manipulation durch einen Medienapparat, dem längst jedes Maß an Menschlichkeit abhandengekommen ist? Die Philosophie spricht in ihrer Interpretation des Freiheitsbegriffs folgendes: Der Freiheitsbegriff (lateinisch libertas) wird als die Möglichkeit verstanden, ohne Beeinflussung zwischen unterschiedlichen Optionen auswählen und entscheiden zu können. Stellen wir uns selbst die Frage, wo Freiheit beginnt. Wo sie endet.

Ich setze die beiden Begriffe gegeneinander. Die Freiheit, soweit es der Geldbeutel zulässt, unablässig und möglichst in unbegrenztem Umfang zu konsumieren. Darüber hinaus dies zu jeder Zeit und Stunde, wenn uns selbst am 22:00 Uhr, wenige Momente vor Ladenschluss noch das komplette Sortiment der Produktvielfalt in den Läden zur Verfügung stehen soll, das wenige Augenblicke später im Container landet. Und die Freiheit eines Menschen, der ein Leben jenseits all dessen führt. Es nach einem anderen Werteverständnis ausrichtet. Der sein Konsumverhalten den selbst gewählten Verhältnissen anpasst, jenseits von Sicherheitsdenken, jenseits eines Netzes, das uns auf die eine oder andere Weise auch lähmt und gefangen hält.

Sie sprach ihn einfach an, den jungen Mann im Zug. Suchte durch ihren Blick andere Blicke vorbeieilender, sich abwendender Menschen. Verschenkte Lächeln. Aufmerksamkeit, die meist unerwidert blieb. Warum auch nicht?
Sie war so frei.

Natürlich bedarf es eines gewissen Einkommens. Und auch die Hilfe, die Menschen wie ihr zuteilwird, wenn es gar nicht mehr geht, ist Gegenstand des Sozialstaates, dessen Organe Teil der Wirtschaftsordnung sind. Lebensmittel, die ihr von Wohlwollenden zugesteckt werden, sei es von Passanten, sei es von den Obsthändlern in der Fußgängerzone, sind erworbene Waren. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, dass sie dem Sozialstaat, dem sozialen Gefüge keinen Beitrag leistet. Vielleicht keinen, der sich in barer Münze, in Zahlenwerken und Bilanzen niederschlägt. Von dem ein oder anderen wurde sie gesehen. Und auch ihrerseits sah sie.

Am Ende aber steht die Erkenntnis, dass wir alle nicht frei sind. Nicht im Sinne dessen, was der zuvor zitierte Text sagt. Schon gar nicht, was uns Politik und Wirtschaft weißmachen wollen, die von der Notwendigkeit ewigen Wachstums schwadronieren. Die vollmundig mit Begriffen wie Wohlstand und Ertrag, den man uns um keinen Preis streitig machen darf, um sich werfen. Den es, mittlerweile ggf. auch wieder mit der Waffe in der Hand, zu verteidigen gilt. Und der bei genauerem Hinsehe doch nichts anderes beinhaltet als das, was Oscar Wilde einmal sagte: „Wir kennen von allem den Preis, aber von kaum etwas den Wert.“

Wir alle, jeder Einzelne, auch sie, um die es hier ging, sind mehr oder wenige abhängig vom Wohlwollen Dritter. Von einer mehr oder weniger funktionierenden Solidargemeinschaft, für die jeder von uns ein gewisses Maß an Verantwortung trägt. Die nämlich, einen Beitrag im Sinne einer Welt zu leisten, die ist, wie wir sie uns wünschen.



Mittwoch, 3. April 2024

Von Menschen und... (Mäusen?)

Ich nahm den Platz neben ihm im Café ein. Es war der einzig noch freie an diesem Nachmittag. Er, in Begleitung eines weiteren Herrn, der ihm gegenübersaß, den Rücken den übrigen Gästen zugewandt. Der junge Mann, 35 Jahre mochte er sein, schaute sich um. Nahm seine Umgebung wahr. Begrüßte mich im Platznehmen. Begrüßte die an uns vorbeiziehenden, hinzukommenden oder das Lokal verlassenden Gäste. Die Bedingung servierte ihm den Kuchen, den er sich zuvor, vielleicht etwas ungelenk, an der Theke des Cafés ausgesucht hatte.

Er lächelte. Lächelte ohne Unterlass. Er aß seinen Kuchen, der ihm hervorragend schmeckte. Er ließ mich dies wissen, als ich kurz hinüberschaute. Die Blicke der übrigen Gäste, die seinen Blick immer wieder für Sekunden trafen, was er wiederum mit einem Lächeln honorierte, wanden sich rasch ab. Mal aus Verlegenheit. Mal las man in ihren Mienen einen anderen Grund. Als sie, die beiden Herren, nach einer Weile aufbrachen, ich blieb noch, denn ich war in interessante Lektüre vertieft, verabschiedete er sich in vollendender Höflichkeit mit einem Diener. Ließ einer Dame, von der Garderobe kommend, aufmerksam den Vortritt und verließ das Café schließlich. Er blieb mir noch eine Weile im Gedächtnis. Er war anders. Er war höflich. Er lächelte. Er lachte, wenn auch zuweilen etwas laut. Er macht sich keine Gedanken über jene, die seine Gegenwart, sei es aus Verunsicherung, sei es aus einer gewissen Form von Abscheu, eher mieden. Er schien ein froh gestimmter, vielleicht sogar ein bisschen glücklicher Geist. All das machte sein Anderssein aus. Kaum aber seine Behinderung.
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Es war ein heißer Sommertag. Touristen drängten sich in der S-Bahn. An einen Sitzplatz war kaum zu denken. Man lagerte sich dicht an dicht in den Gängen und den Türbereichen. Menschen verließen den Zug, anderen kamen hinzu. Unter anderem eine kleine Gruppe im Rollstuhl sitzender junger Leute in Begleitung anderer, die ihnen das Leben ein wenig erleichterten. Es waren jene Rollstühle, ausgestattet mit einer Technologie, die ihnen eine gewisse Art verbaler Kommunikation ermöglichten. Selbst waren sie darin stark eingeschränkt. Dieser Tatsache trotzend versuchte es einer der Betroffenen gegenüber einem weiteren Fahrgast, der sich alsbald abwendete - soweit dies in dem überfüllten Zug überhaupt möglich war. Dies wohl nicht zuletzt vermögend des Umstandes, dass der junge Mann nicht seiner Vorstellung von Ästhetik entsprach. Ein klarer Fall von Verunsicherung. Vielleicht aber auch einer ausgeprägten Einschränkung, wenn nicht Behinderung. Der nämlich, eines gewissen Grades sozialer Inkompetenz, gegenüber des hilfsbedürftigen jungen Menschen.

Ich erinnere mich an die Worte eines Freundes, der sich im Zusammenhang dessen, was wir hinlänglich oder oft auch bedenkenlos als Behinderung ermessen, sagte „Behindert ist man nicht. Behindert wird man.“ Behindern tun wir Menschen mit Einschränkungen, grenzen sie aus, versäumen es, Bedingungen zu schaffen, in denen jeder Mensch in jeder Variante des Seins ein angemessenes Leben führen kann.
Welcher Maßstab aber liegt dem Begriff Behinderung zugrunde? Ein Mensch, der sich nicht aus eigener Kraft fortbewegen kann, ist behindert. Ein Mensch, der sich nicht verbal artikulieren kann, wie der zuvor beschriebene, ebenso. Ein Mensch, der ans Bett gefesselt ist, künstlich ernährt werden, gereinigt und gepflegt werden muss, im Besonderen. Ein Mensch der sich durch optische Merkmale, Besonderheiten seines Aussehens, damit einhergehend gewisse
Verhaltensauffälligkeiten, gilt als behindert. Sie können vieles nicht. Vieles aber doch.
Werden aber reduziert auf das, was ihnen nicht möglich ist.

Es gibt bei jedem Menschen mehr Dinge die er nicht kann gegenüber denen die er kann oder beherrscht.

Die Individualität der menschlichen Art umfasst Milliarden von Varianten, die wir größtenteils als normal erachten. 8,5 Milliarden Menschen. Ihre Zahl steigt täglich. 8,5 Milliarden Individuen, von denen keiner dem anderen gleicht. Trotzdem unterscheiden wir in Abnormalität und Normalität, wobei ich nicht von Merkmalen wie Hautfarbe, kultureller oder auch religiöser Vielfalt spreche. Jeder ist auf die ein oder andere Weise in irgendeiner Form, in irgendeinem Grad eingeschränkt. Ich zum Beispiel war nie gut in Mathematik. Ich brauchte Hilfe. Ich kann auch nicht besonders gut kochen und ohne Kochbuch als Hilfsmittel hätte ich mich wahrscheinlich schon selbst vergiftet. Eine Form der Hilfsbedürftigkeit. Mathematik und Nahrungsaufnahme sind zwei wesentliche Merkmale unseres Lebens. Niemand aber käme auf den Gedanken, diesem Mangel einen Behindertenstatus zuzuweisen.

Jeder braucht für irgendetwas ein Hilfsmittel, dass das Leben im Alltag erleichtert. Was wir aber tun ist eine Art Klassifizierung. Eine Bewertung des jeweiligen Grades. Und wenn dieser eine gewisse Grenze überschreitet, grenzen wir aus. Behindern wir.

Der Gesetzgeber schafft Gesetze, die dem entgegenwirken sollen. Man hat einen furchtbar sperrigen Begriff dafür geschaffen. Inklusion. Er verfügt, Menschen trotz gewisser Einschränkungen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.Bildung zugänglich zu machen. Teilhaben zu lassen an „normalem“ Leben. Menschen die Möglichkeiten eines Lebens in Würde, Anerkennung und Chancenvielfalt in der Mitte der Gesellschaft zu geben. Weigern wir uns, wird dies mit gewissen Zwangsmaßnahmen belegt.


Was aber der Integration zugrunde liegen sollte, ist ein Bewusstsein. Eine Selbstverständlichkeit. Ein nicht reduzieren der Menschen auf eine Variante ihres Seins, die nicht der sogenannten Norm entspricht. Menschen und Norm sind zwei Begriffe, die nicht zusammengehören. 
Ich bin Menschen begegnet, die soweit gingen, dass sie Hilfsbedürftigkeit ab einem gewissen Grad für ekelig befanden. Ich gebe zu, es ist in mancher Situation grenzwertig und auch ich bin nicht frei von Vorbehalten. Aber es geht in letzter Konsequent immer um einen Menschen. Um Verantwortung dem nächsten Gegenüber, niemandem einen Platz in der Mitte der Gesellschaft vorzubehalten.

Was auch immer diesem Bewusstsein zugrunde liegt. In meinem Fall ist es ein gewisses Maß an Dankbarkeit und Demut hinsichtlich des Privilegs, dass ich dieser Hilfe noch nicht bedarf.







Montag, 12. Februar 2024

Die Geister, die ich rief...

Charlotte Knobloch, Auschwitzüberlebende und ehemalige Vizepräsidentin des jüdischen Weltkongresses, nannte es mal den Durchlauferhitzer für Hass und Gewalt. Die Rede ist von einer Institution, die anders gedacht war. Gedacht als Medium der Vernetzung der Welt, nicht nur im wirtschaftlichen Sinne. Als Medium des Informationsaustausches der Wissenschaft. Medium, das Bildung zugänglicher macht. Medium, das Menschen durch sogenannte soziale Netzwerke miteinander in Kommunikation setzt. Einander näher bringt.

Ausgerechnet er nun, einer der Entwickler des Internets, Schöpfer des Begriffs Virtuell Reality, der Kanadier Jaron Lanier, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, verliehen 2018 in der Frankfurter Paulskirche, wandelte sich zu einem der aktivsten Netzwerkkritiker. Benennt es als „grandiose Fehlkonstruktion“. Mahnt durch Bücher und Vorträge die Weltöffentlichkeit unablässig zu einem umsichtigen und gewissenhafteren Umgang. Es ist entartet. So war es nicht gedacht.

Natürlich ist es naiv zu glauben, dass Erfindungen ausschließlich dem Guten dienen. Da war die Erfindung des Papiers, das die Übermittlung von Nachrichten in schriftlicher Form ermöglichte. Da waren Guttenbergs bewegliche Blei-Lettern, die der Erstellung von Druckerzeugnissen gewaltigen Umfangs, respektive dem Buchdruck dienten. Das erste Massenmedium, die Lutherbibel, die dem Kirchenstaat, dem kaum an einer gebildeten, aufgeklärten Bevölkerung gelegen war, den Garaus machte.

Vergleichbar ohne Frage, die Weiterentwicklung bis in die Gegenwart. Die Massenmedien unserer Zeit. Das weiße Blatt, das neben dem Tugendhaften, neben dem Verbreiten von Erkenntnissen und Wahrheit auch dem Gegenteil in die Hände spielte. Der Provokation durch gezielt gesetzte Skandale, der Verbreitung der Lüge, der Manipulation, dem Säen von Unfrieden durch Hass und Hetze. Und stetig entwickeln wir neue Mechanismen, die es dem Geist schwer machen, den Ungeist zu erkennen. Die es hingegen dem Ungeist erleichtern, sein Gift zu verstreuen. Das Gift, das in der Dummheit oder den aus Bequemlichkeit Denkfaulen unter den Konsumenten so fruchtbaren Boden findet.

Einmal in der Welt, hat das Böse immer einen gewissen Vorlauf. Hat es leicht im „World-Wide-Web“. Nutzt die „dunkle Seite der (Internet) Macht“, das sogenannte Darknet, in dem sie sich nahezu ungestört bedienen, die Brandstifter, die sich Radikalisierenden, eben der Ungeist, für ihren Feldzug gegen Rechtsstaat und Frieden. Bis man es enttarnt, vergeht Zeit. Entwickelt sich eine gewisse Dynamik. Entwickeln sich weit verbreitete Netzwerke, die kaum mehr zu beherrschen sind. Illegaler Handel mit Drogen. Mit Waffen aller Art. Darüber Prostitution, Menschenhandel in globaler Dimension.

Dass das Internet nicht das Paradies ist, das sich anfangs viele erträumt hatten, ist inzwischen den meisten klar. Die Schuld an diesen Fehlentwicklungen rund um das Netz wird in der Regel den großen Internet- und Tech-Konzernen wie Facebook oder Google zugeschrieben. Für den Virtual-Reality-Pionier und Internet-Kritiker Jaron Lanier ist das jedoch nur die eine Seite der Wahrheit. Ihm zufolge hat auch die Technik-Community ihren Teil dazu beigetragen, dass das Netz heute „ruiniert“ ist, wie er sagt.
Aber vielleicht übersieht man auf der Suche nach dem Schuldigen noch einen weiteren Aspekt. Und ich denke hier besteht der größte Teil des Handlungsbedarfs. Den genannten Konzernen ist vordergründig an kommerziellen Erfolgen gelegen. Von dieser Strategie werden sie sich kaum distanzieren. Für mich aber liegt die Schuld, wenn von Schuld überhaupt zu reden ist, beim Adressaten. Beim Nutzer. Bei jedem, der sich manipulieren lässt durch Halb- und Unwahrheiten, deren Quellen oft so transparent sind, das sie auch den Dümmsten offenbar werden müssten.Oder bei denen, die mit wissenschaftlicher Raffinesse, mit Leidenschaft und Enthusiasmus Dinge entwickelten, die dem Fortschritt der Zivilisation dienten. Nicht ihrer Vernichtung.

Kann man die Erfindung des Rads verurteilen, das den Ackerbau vereinfachte, den Handel im größeren Rahmen, aber auch die Logistik von Kriegsgerät ermöglichte? Den Ausbau der Bahn, der Nationen miteinander verband, uns Reisen ließ, der aber auch millionenfache Deportationen ermöglichte? Die Erfindung des Dynamit, das den Bergbau, den Straßenbau vereinfachte, in die falschen Hände geraten aber zur verherenden Waffe verkam?

Sich dem Fortschritt zu verweigern, war schon zu Zeiten der Erfindung des Buchdrucks ausgemachter Irrsinn. Mit der Erfindung des Internets ist es nichts anderes. Mit Erfindungen, mit denen sich nun heranwachsende Generationen auseinanderzusetzen haben, beispielsweise der Künstlichen Intelligenz, wird es sich ebenso darstellen. Sie kann sich zum Segen, kann sich zum Fluch entwickeln. Es werden Kontrollmechanismen und Regulierungsbehörden geschaffen, die Schlimmstes zu verhindern suchen. Doch versucht werden wird es durch jene, denen an allem anderen gelegen ist, nur nicht an Fortschrittsgeist im positiven Sinne.

Setzen wir also auf Aufklärung und Bildung. Auf gesunden Verstand, auf Neugierde und hieraus resultierende, auch unbequeme Fragen und auf das freie Denken, das wir uns weder von denen, die uns die Lüge als Wahrheit verkaufen wollen, noch von Maschinen- und Softwaretechnologie aus der Hand nehmen lassen dürfen. Wie schaffen uns Bedingungen, denen wir in Teilen heute schon nicht mehr gewachsen sind. Situationen, die uns nicht mehr unterscheiden lassen zwischen Fake, Deepfake (Neudeutsch) und Wahrheit.

Jaron Lanier ist kein Feind des Internets, wie er mehrfach betont. Ihm geht es aber darum, die sozialen Netzwerke und deren Macht wahrzunehmen, damit das Silicon Valley Raum erhält, „um an sich zu arbeiten“. Solch ein Erziehungsgedanke mag naiv klingen. Wenn man aber bedenkt, wie wenig die bisher eingeleiteten Regulierungen gegen die Schattenseiten der Netzkommunikation ausrichten konnten, fragt man sich schon, ob es nicht an der Zeit ist, solch alternativen Schocktherapien Folge zu leisten. Machen sie den Nutzer doch wieder zu dem, wofür das Netz mal stand: zum frei denkenden Geist im Sinne von Nachhaltig in Fortschritt und Frieden.