Ich traf sie in Zug. Sie unterhielt sich mit einem weiteren Reisenden, der sie aber kaum verstand. Mit einem jungen Mann fremdländischer Herkunft. Ein paar Floskeln, ein zustimmendes Nicken hin und wieder. Die Situation schien ihm unangenehm. Das Gespräch, wenn man es so nennen konnte, fand im Eingangsbereich des Waggons statt. Der Zug näherte sich dem Bahnhof. Immer wieder schaute er hinaus, den Halt des Zuges, das Öffnen der Tür, den Moment herbeisehnend, der ihn aus dieser misslichen Lage befreite.
Sie nahm sich aus vom Bild der üblichen, ohne ständigen Wohnsitz Lebenden. Auf dem Rücken ein offenbar sorgfältig gepackter Rucksack. Kleidung und Schuhe leicht verschlissen, doch in einem halbwegs annehmbaren Zustand. Wenn auch sehr mitteilsam, so schien dies doch nicht aus übermäßigem Alkoholkonsum zu resultieren. Die Reihe ihrer Frontzähne wies eine Lücke auf. Die Wangen eine Spur eingefallen. Ihre Augen in tiefen Rändern liegend, die den Rückschluss zuließen, dass sie übernächtigt war. Dennoch: Ihr Wesen lebhaft und wach. Ihre Ausdrucksweise klar und präzise. Ich hörte sie ins Nichts sagen, dass ihr wohl eine erneute Nacht auf dem Bahnhof bevorstünde. „Wieder eine Nacht auf dem Bahnhof. Na, da kommt Freunde auf.“
Ich
beobachtete Sie mit angemessener Diskretion. Betrachtete sie aus der
Perspektive der Komfortzone, in der ich selbst lebe. Eine nach
meinem Geschmack eingerichtete 3-Zimmer-Wohnung. Wohnzimmer, Küche,
Bad, Schlaf- und Gästezimmer. Eine gewisse soziale Sicherheit durch
ein regelmäßiges Einkommen. Ich empfinde meinen Status nicht als
vermögend, doch als ausreichend bis zufriedenstellend. Werte, die
einem Menschen, der auf der Straße lebt, nicht oder allenfalls
bedingt zuteil sind.
Fiel
sie in diese Kategorie? Für einen Moment dachte ich daran, sie zu
fragen, ob ich ihr diesen Standard für eine Nacht, für einen
begrenzten Zeitraum anbieten könne. Ihr das Bad zur Verfügung
stellen. Die Küche, incl. eines ausreichend gefüllten
Kühlschrankes. Eine Waschmaschine, in der sie ihre Kleidung hätte
reinigen können. Das Gästezimmer mit einem frisch bezogenen Bett.
Ein Dach über dem Kopf. Eine Ausgansposition, für einen möglichen
Wiedereintritt in die Gesellschaft.
Der Gedanke hielt mich für einige Sekunden gefangen. Könnte ich ihr vertrauen? Ich verbot ihn mir. Ich hätte mich von meinem Gefühl lenken lassen. Und schließlich: Welches Risiko birgt es für mich? Eine Frage, ein Risiko, das für sie von ähnlicher Dimension wäre. Sie interessierte mich. Ein Mensch, dessen Leben nach anderen Maßständen verläuft als das einer durchschnittlich bürgerlichen Existenz wie meiner. Schließlich ließ ich ab von diesem Einfall. Es ergab sich auch kaum die Möglichkeit, sie auf dieses Unterfangen anzusprechen. Kaum, dass sich die Türen des Wagons öffneten, war sie verschwunden im Menschengetriebe des überfüllten Bahnsteigs. Der Gedanke aber begleitete mich noch eine Weile.
Freiheit stand über ihm.
Fühle ich mich frei in diesem engmaschig gewobenen Netz sozialer Sicherheit, das uns in fast jeder Lebenssituation auffängt? Das uns Fallstricke und doppelte Böden bietet, damit nicht das passiert, wovor wir in der Öffentlichkeit zumeist die Augen verschließen? Den Blick abwenden? Ist ein Mensch wie sie, der sich all dem entzieht, dessen Besitz Platz findet in einer Reisetasche und einem Rucksack, der das geringstmögliche Maß an Kapital, das er benötigt, um sich auf dieser untersten Stufe einer Existenz über Wasser zu halten, durch Flaschensammeln erwirbt, vielleicht sogar freier?
Ist man frei in einer Situation, die man erfährt, wenn man in den Supermärkten unter 50 verschiedenen Brotsorten, wohlsortiert auf 20 Regalmetern, auswählen muss? Wenn die Produktpalette von all dem, das man für Geld werben kann, von Tag zu Tag breiter wird, sodass sie für den normal gearteten Verstand kaum mehr zu erfassen ist?
Ist man frei, wenn man zwar tun und lassen kann, was man will, das, was man will, aber weitgehend fremdbestimmt ist durch unablässige Bebilderung, Beschallung, gezielte Manipulation durch einen Medienapparat, dem längst jedes Maß an Menschlichkeit abhandengekommen ist? Die Philosophie spricht in ihrer Interpretation des Freiheitsbegriffs folgendes: Der Freiheitsbegriff (lateinisch libertas) wird als die Möglichkeit verstanden, ohne Beeinflussung zwischen unterschiedlichen Optionen auswählen und entscheiden zu können. Stellen wir uns selbst die Frage, wo Freiheit beginnt. Wo sie endet.
Ich setze die beiden Begriffe gegeneinander. Die Freiheit, soweit es der Geldbeutel zulässt, unablässig und möglichst in unbegrenztem Umfang zu konsumieren. Darüber hinaus dies zu jeder Zeit und Stunde, wenn uns selbst am 22:00 Uhr, wenige Momente vor Ladenschluss noch das komplette Sortiment der Produktvielfalt in den Läden zur Verfügung stehen soll, das wenige Augenblicke später im Container landet. Und die Freiheit eines Menschen, der ein Leben jenseits all dessen führt. Es nach einem anderen Werteverständnis ausrichtet. Der sein Konsumverhalten den selbst gewählten Verhältnissen anpasst, jenseits von Sicherheitsdenken, jenseits eines Netzes, das uns auf die eine oder andere Weise auch lähmt und gefangen hält.
Sie
sprach ihn einfach an, den jungen Mann im Zug. Suchte durch ihren
Blick andere Blicke vorbeieilender, sich abwendender Menschen.
Verschenkte Lächeln. Aufmerksamkeit, die meist unerwidert blieb.
Warum auch nicht?
Sie war so frei.
Natürlich bedarf es eines gewissen Einkommens. Und auch die Hilfe, die Menschen wie ihr zuteilwird, wenn es gar nicht mehr geht, ist Gegenstand des Sozialstaates, dessen Organe Teil der Wirtschaftsordnung sind. Lebensmittel, die ihr von Wohlwollenden zugesteckt werden, sei es von Passanten, sei es von den Obsthändlern in der Fußgängerzone, sind erworbene Waren. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, dass sie dem Sozialstaat, dem sozialen Gefüge keinen Beitrag leistet. Vielleicht keinen, der sich in barer Münze, in Zahlenwerken und Bilanzen niederschlägt. Von dem ein oder anderen wurde sie gesehen. Und auch ihrerseits sah sie.
Am Ende aber steht die Erkenntnis, dass wir alle nicht frei sind. Nicht im Sinne dessen, was der zuvor zitierte Text sagt. Schon gar nicht, was uns Politik und Wirtschaft weißmachen wollen, die von der Notwendigkeit ewigen Wachstums schwadronieren. Die vollmundig mit Begriffen wie Wohlstand und Ertrag, den man uns um keinen Preis streitig machen darf, um sich werfen. Den es, mittlerweile ggf. auch wieder mit der Waffe in der Hand, zu verteidigen gilt. Und der bei genauerem Hinsehe doch nichts anderes beinhaltet als das, was Oscar Wilde einmal sagte: „Wir kennen von allem den Preis, aber von kaum etwas den Wert.“
Wir alle, jeder Einzelne, auch sie, um die es hier ging, sind mehr oder wenige abhängig vom Wohlwollen Dritter. Von einer mehr oder weniger funktionierenden Solidargemeinschaft, für die jeder von uns ein gewisses Maß an Verantwortung trägt. Die nämlich, einen Beitrag im Sinne einer Welt zu leisten, die ist, wie wir sie uns wünschen.