Ich nahm den Platz neben ihm im Café ein. Es war der einzig noch freie an diesem Nachmittag. Er, in Begleitung eines weiteren Herrn, der ihm gegenübersaß, den Rücken den übrigen Gästen zugewandt. Der junge Mann, 35 Jahre mochte er sein, schaute sich um. Nahm seine Umgebung wahr. Begrüßte mich im Platznehmen. Begrüßte die an uns vorbeiziehenden, hinzukommenden oder das Lokal verlassenden Gäste. Die Bedingung servierte ihm den Kuchen, den er sich zuvor, vielleicht etwas ungelenk, an der Theke des Cafés ausgesucht hatte.
Er
lächelte. Lächelte ohne Unterlass. Er aß seinen Kuchen, der ihm
hervorragend schmeckte. Er ließ mich dies wissen, als ich kurz
hinüberschaute. Die Blicke der übrigen Gäste, die seinen Blick
immer wieder für Sekunden trafen, was er wiederum mit einem Lächeln
honorierte, wanden sich rasch ab. Mal aus Verlegenheit. Mal las man
in ihren Mienen einen anderen Grund. Als sie, die beiden Herren,
nach einer Weile aufbrachen, ich blieb noch, denn ich war in
interessante Lektüre vertieft, verabschiedete er sich in
vollendender Höflichkeit mit einem Diener. Ließ einer Dame, von der
Garderobe kommend, aufmerksam den Vortritt und verließ das Café
schließlich. Er blieb mir noch eine Weile im Gedächtnis. Er war
anders. Er war höflich. Er lächelte. Er lachte, wenn auch zuweilen
etwas laut. Er macht sich keine Gedanken über jene, die seine
Gegenwart, sei es aus Verunsicherung, sei es aus einer gewissen Form
von Abscheu, eher mieden. Er schien ein froh gestimmter, vielleicht
sogar ein bisschen glücklicher Geist. All das machte sein Anderssein
aus. Kaum aber seine Behinderung.
-
Es war ein heißer
Sommertag. Touristen drängten sich in der S-Bahn. An einen Sitzplatz
war kaum zu denken. Man lagerte sich dicht an dicht in den Gängen
und den Türbereichen. Menschen verließen den Zug, anderen kamen
hinzu. Unter anderem eine kleine Gruppe im Rollstuhl sitzender junger
Leute in Begleitung anderer, die ihnen das Leben ein wenig
erleichterten. Es waren jene Rollstühle, ausgestattet mit einer
Technologie, die ihnen eine gewisse Art verbaler Kommunikation
ermöglichten. Selbst waren sie darin stark eingeschränkt. Dieser
Tatsache trotzend versuchte es einer der Betroffenen gegenüber einem
weiteren Fahrgast, der sich alsbald abwendete - soweit dies in dem
überfüllten Zug überhaupt möglich war. Dies wohl nicht zuletzt
vermögend des Umstandes, dass der junge Mann nicht seiner
Vorstellung von Ästhetik entsprach. Ein klarer Fall von
Verunsicherung. Vielleicht aber auch einer ausgeprägten
Einschränkung, wenn nicht Behinderung. Der nämlich, eines gewissen
Grades sozialer Inkompetenz, gegenüber des hilfsbedürftigen jungen
Menschen.
Ich
erinnere mich an die Worte eines Freundes, der sich im Zusammenhang
dessen, was wir hinlänglich oder oft auch bedenkenlos als
Behinderung ermessen, sagte „Behindert ist man nicht. Behindert
wird man.“ Behindern tun wir Menschen mit Einschränkungen, grenzen
sie aus, versäumen es, Bedingungen zu schaffen, in denen jeder
Mensch in jeder Variante des Seins ein angemessenes Leben führen
kann.
Welcher Maßstab aber liegt dem Begriff Behinderung
zugrunde? Ein Mensch, der sich nicht aus eigener Kraft fortbewegen
kann, ist behindert. Ein Mensch, der sich nicht verbal artikulieren
kann, wie der zuvor beschriebene, ebenso. Ein Mensch, der ans Bett
gefesselt ist, künstlich ernährt werden, gereinigt und gepflegt
werden muss, im Besonderen. Ein Mensch der sich durch optische
Merkmale, Besonderheiten seines Aussehens, damit einhergehend gewisse
Verhaltensauffälligkeiten, gilt als behindert. Sie können vieles
nicht. Vieles aber doch.
Werden
aber reduziert auf das, was ihnen nicht möglich ist.
Es gibt bei jedem Menschen mehr Dinge die er nicht kann gegenüber denen die er kann oder beherrscht.
Die Individualität der menschlichen Art umfasst Milliarden von Varianten, die wir größtenteils als normal erachten. 8,5 Milliarden Menschen. Ihre Zahl steigt täglich. 8,5 Milliarden Individuen, von denen keiner dem anderen gleicht. Trotzdem unterscheiden wir in Abnormalität und Normalität, wobei ich nicht von Merkmalen wie Hautfarbe, kultureller oder auch religiöser Vielfalt spreche. Jeder ist auf die ein oder andere Weise in irgendeiner Form, in irgendeinem Grad eingeschränkt. Ich zum Beispiel war nie gut in Mathematik. Ich brauchte Hilfe. Ich kann auch nicht besonders gut kochen und ohne Kochbuch als Hilfsmittel hätte ich mich wahrscheinlich schon selbst vergiftet. Eine Form der Hilfsbedürftigkeit. Mathematik und Nahrungsaufnahme sind zwei wesentliche Merkmale unseres Lebens. Niemand aber käme auf den Gedanken, diesem Mangel einen Behindertenstatus zuzuweisen.
Jeder braucht für irgendetwas ein Hilfsmittel, dass das Leben im Alltag erleichtert. Was wir aber tun ist eine Art Klassifizierung. Eine Bewertung des jeweiligen Grades. Und wenn dieser eine gewisse Grenze überschreitet, grenzen wir aus. Behindern wir.
Der Gesetzgeber schafft Gesetze, die dem entgegenwirken sollen. Man hat einen furchtbar sperrigen Begriff dafür geschaffen. Inklusion. Er verfügt, Menschen trotz gewisser Einschränkungen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.Bildung zugänglich zu machen. Teilhaben zu lassen an „normalem“ Leben. Menschen die Möglichkeiten eines Lebens in Würde, Anerkennung und Chancenvielfalt in der Mitte der Gesellschaft zu geben. Weigern wir uns, wird dies mit gewissen Zwangsmaßnahmen belegt.
Was
aber der Integration zugrunde liegen sollte, ist ein Bewusstsein.
Eine Selbstverständlichkeit. Ein nicht reduzieren der Menschen auf
eine Variante ihres Seins, die nicht der sogenannten Norm entspricht.
Menschen und Norm sind zwei Begriffe, die nicht zusammengehören. Ich
bin Menschen begegnet, die soweit gingen, dass sie Hilfsbedürftigkeit
ab einem gewissen Grad für ekelig befanden. Ich gebe zu, es ist
in mancher Situation grenzwertig und auch ich bin nicht frei von
Vorbehalten. Aber es geht in letzter Konsequent immer um einen
Menschen. Um Verantwortung dem nächsten Gegenüber, niemandem einen
Platz in der Mitte der Gesellschaft vorzubehalten.
Was auch immer diesem Bewusstsein zugrunde liegt. In meinem Fall ist es ein gewisses Maß an Dankbarkeit und Demut hinsichtlich des Privilegs, dass ich dieser Hilfe noch nicht bedarf.