Dienstag, 28. Mai 2024

Versuch über die Freiheit

Ich traf sie in Zug. Sie unterhielt sich mit einem weiteren Reisenden, der sie aber kaum verstand. Mit einem jungen Mann fremdländischer Herkunft. Ein paar Floskeln, ein zustimmendes Nicken hin und wieder. Die Situation schien ihm unangenehm. Das Gespräch, wenn man es so nennen konnte, fand im Eingangsbereich des Waggons statt. Der Zug näherte sich dem Bahnhof. Immer wieder schaute er hinaus, den Halt des Zuges, das Öffnen der Tür, den Moment herbeisehnend, der ihn aus dieser misslichen Lage befreite.

Sie nahm sich aus vom Bild der üblichen, ohne ständigen Wohnsitz Lebenden. Auf dem Rücken ein offenbar sorgfältig gepackter Rucksack. Kleidung und Schuhe leicht verschlissen, doch in einem halbwegs annehmbaren Zustand. Wenn auch sehr mitteilsam, so schien dies doch nicht aus übermäßigem Alkoholkonsum zu resultieren. Die Reihe ihrer Frontzähne wies eine Lücke auf. Die Wangen eine Spur eingefallen. Ihre Augen in tiefen Rändern liegend, die den Rückschluss zuließen, dass sie übernächtigt war. Dennoch: Ihr Wesen lebhaft und wach. Ihre Ausdrucksweise klar und präzise. Ich hörte sie ins Nichts sagen, dass ihr wohl eine erneute Nacht auf dem Bahnhof bevorstünde. „Wieder eine Nacht auf dem Bahnhof. Na, da kommt Freunde auf.“

Ich beobachtete Sie mit angemessener Diskretion. Betrachtete sie aus der Perspektive der Komfortzone, in der ich selbst lebe. Eine nach meinem Geschmack eingerichtete 3-Zimmer-Wohnung. Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlaf- und Gästezimmer. Eine gewisse soziale Sicherheit durch ein regelmäßiges Einkommen. Ich empfinde meinen Status nicht als vermögend, doch als ausreichend bis zufriedenstellend. Werte, die einem Menschen, der auf der Straße lebt, nicht oder allenfalls bedingt zuteil sind. 
Fiel sie in diese Kategorie? Für einen Moment dachte ich daran, sie zu fragen, ob ich ihr diesen Standard für eine Nacht, für einen begrenzten Zeitraum anbieten könne. Ihr das Bad zur Verfügung stellen. Die Küche, incl. eines ausreichend gefüllten Kühlschrankes. Eine Waschmaschine, in der sie ihre Kleidung hätte reinigen können. Das Gästezimmer mit einem frisch bezogenen Bett. Ein Dach über dem Kopf. Eine Ausgansposition, für einen möglichen Wiedereintritt in die Gesellschaft.

Der Gedanke hielt mich für einige Sekunden gefangen. Könnte ich ihr vertrauen? Ich verbot ihn mir. Ich hätte mich von meinem Gefühl lenken lassen. Und schließlich: Welches Risiko birgt es für mich? Eine Frage, ein Risiko, das für sie von ähnlicher Dimension wäre. Sie interessierte mich. Ein Mensch, dessen Leben nach anderen Maßständen verläuft als das einer durchschnittlich bürgerlichen Existenz wie meiner. Schließlich ließ ich ab von diesem Einfall. Es ergab sich auch kaum die Möglichkeit, sie auf dieses Unterfangen anzusprechen. Kaum, dass sich die Türen des Wagons öffneten, war sie verschwunden im Menschengetriebe des überfüllten Bahnsteigs. Der Gedanke aber begleitete mich noch eine Weile.

Freiheit stand über ihm.

Fühle ich mich frei in diesem engmaschig gewobenen Netz sozialer Sicherheit, das uns in fast jeder Lebenssituation auffängt? Das uns Fallstricke und doppelte Böden bietet, damit nicht das passiert, wovor wir in der Öffentlichkeit zumeist die Augen verschließen? Den Blick abwenden? Ist ein Mensch wie sie, der sich all dem entzieht, dessen Besitz Platz findet in einer Reisetasche und einem Rucksack, der das geringstmögliche Maß an Kapital, das er benötigt, um sich auf dieser untersten Stufe einer Existenz über Wasser zu halten, durch Flaschensammeln erwirbt, vielleicht sogar freier?

Ist man frei in einer Situation, die man erfährt, wenn man in den Supermärkten unter 50 verschiedenen Brotsorten, wohlsortiert auf 20 Regalmetern, auswählen muss? Wenn die Produktpalette von all dem, das man für Geld werben kann, von Tag zu Tag breiter wird, sodass sie für den normal gearteten Verstand kaum mehr zu erfassen ist?

Ist man frei, wenn man zwar tun und lassen kann, was man will, das, was man will, aber weitgehend fremdbestimmt ist durch unablässige Bebilderung, Beschallung, gezielte Manipulation durch einen Medienapparat, dem längst jedes Maß an Menschlichkeit abhandengekommen ist? Die Philosophie spricht in ihrer Interpretation des Freiheitsbegriffs folgendes: Der Freiheitsbegriff (lateinisch libertas) wird als die Möglichkeit verstanden, ohne Beeinflussung zwischen unterschiedlichen Optionen auswählen und entscheiden zu können. Stellen wir uns selbst die Frage, wo Freiheit beginnt. Wo sie endet.

Ich setze die beiden Begriffe gegeneinander. Die Freiheit, soweit es der Geldbeutel zulässt, unablässig und möglichst in unbegrenztem Umfang zu konsumieren. Darüber hinaus dies zu jeder Zeit und Stunde, wenn uns selbst am 22:00 Uhr, wenige Momente vor Ladenschluss noch das komplette Sortiment der Produktvielfalt in den Läden zur Verfügung stehen soll, das wenige Augenblicke später im Container landet. Und die Freiheit eines Menschen, der ein Leben jenseits all dessen führt. Es nach einem anderen Werteverständnis ausrichtet. Der sein Konsumverhalten den selbst gewählten Verhältnissen anpasst, jenseits von Sicherheitsdenken, jenseits eines Netzes, das uns auf die eine oder andere Weise auch lähmt und gefangen hält.

Sie sprach ihn einfach an, den jungen Mann im Zug. Suchte durch ihren Blick andere Blicke vorbeieilender, sich abwendender Menschen. Verschenkte Lächeln. Aufmerksamkeit, die meist unerwidert blieb. Warum auch nicht?
Sie war so frei.

Natürlich bedarf es eines gewissen Einkommens. Und auch die Hilfe, die Menschen wie ihr zuteilwird, wenn es gar nicht mehr geht, ist Gegenstand des Sozialstaates, dessen Organe Teil der Wirtschaftsordnung sind. Lebensmittel, die ihr von Wohlwollenden zugesteckt werden, sei es von Passanten, sei es von den Obsthändlern in der Fußgängerzone, sind erworbene Waren. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, dass sie dem Sozialstaat, dem sozialen Gefüge keinen Beitrag leistet. Vielleicht keinen, der sich in barer Münze, in Zahlenwerken und Bilanzen niederschlägt. Von dem ein oder anderen wurde sie gesehen. Und auch ihrerseits sah sie.

Am Ende aber steht die Erkenntnis, dass wir alle nicht frei sind. Nicht im Sinne dessen, was der zuvor zitierte Text sagt. Schon gar nicht, was uns Politik und Wirtschaft weißmachen wollen, die von der Notwendigkeit ewigen Wachstums schwadronieren. Die vollmundig mit Begriffen wie Wohlstand und Ertrag, den man uns um keinen Preis streitig machen darf, um sich werfen. Den es, mittlerweile ggf. auch wieder mit der Waffe in der Hand, zu verteidigen gilt. Und der bei genauerem Hinsehe doch nichts anderes beinhaltet als das, was Oscar Wilde einmal sagte: „Wir kennen von allem den Preis, aber von kaum etwas den Wert.“

Wir alle, jeder Einzelne, auch sie, um die es hier ging, sind mehr oder wenige abhängig vom Wohlwollen Dritter. Von einer mehr oder weniger funktionierenden Solidargemeinschaft, für die jeder von uns ein gewisses Maß an Verantwortung trägt. Die nämlich, einen Beitrag im Sinne einer Welt zu leisten, die ist, wie wir sie uns wünschen.



Mittwoch, 3. April 2024

Von Menschen und... (Mäusen?)

Ich nahm den Platz neben ihm im Café ein. Es war der einzig noch freie an diesem Nachmittag. Er, in Begleitung eines weiteren Herrn, der ihm gegenübersaß, den Rücken den übrigen Gästen zugewandt. Der junge Mann, 35 Jahre mochte er sein, schaute sich um. Nahm seine Umgebung wahr. Begrüßte mich im Platznehmen. Begrüßte die an uns vorbeiziehenden, hinzukommenden oder das Lokal verlassenden Gäste. Die Bedingung servierte ihm den Kuchen, den er sich zuvor, vielleicht etwas ungelenk, an der Theke des Cafés ausgesucht hatte.

Er lächelte. Lächelte ohne Unterlass. Er aß seinen Kuchen, der ihm hervorragend schmeckte. Er ließ mich dies wissen, als ich kurz hinüberschaute. Die Blicke der übrigen Gäste, die seinen Blick immer wieder für Sekunden trafen, was er wiederum mit einem Lächeln honorierte, wanden sich rasch ab. Mal aus Verlegenheit. Mal las man in ihren Mienen einen anderen Grund. Als sie, die beiden Herren, nach einer Weile aufbrachen, ich blieb noch, denn ich war in interessante Lektüre vertieft, verabschiedete er sich in vollendender Höflichkeit mit einem Diener. Ließ einer Dame, von der Garderobe kommend, aufmerksam den Vortritt und verließ das Café schließlich. Er blieb mir noch eine Weile im Gedächtnis. Er war anders. Er war höflich. Er lächelte. Er lachte, wenn auch zuweilen etwas laut. Er macht sich keine Gedanken über jene, die seine Gegenwart, sei es aus Verunsicherung, sei es aus einer gewissen Form von Abscheu, eher mieden. Er schien ein froh gestimmter, vielleicht sogar ein bisschen glücklicher Geist. All das machte sein Anderssein aus. Kaum aber seine Behinderung.
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Es war ein heißer Sommertag. Touristen drängten sich in der S-Bahn. An einen Sitzplatz war kaum zu denken. Man lagerte sich dicht an dicht in den Gängen und den Türbereichen. Menschen verließen den Zug, anderen kamen hinzu. Unter anderem eine kleine Gruppe im Rollstuhl sitzender junger Leute in Begleitung anderer, die ihnen das Leben ein wenig erleichterten. Es waren jene Rollstühle, ausgestattet mit einer Technologie, die ihnen eine gewisse Art verbaler Kommunikation ermöglichten. Selbst waren sie darin stark eingeschränkt. Dieser Tatsache trotzend versuchte es einer der Betroffenen gegenüber einem weiteren Fahrgast, der sich alsbald abwendete - soweit dies in dem überfüllten Zug überhaupt möglich war. Dies wohl nicht zuletzt vermögend des Umstandes, dass der junge Mann nicht seiner Vorstellung von Ästhetik entsprach. Ein klarer Fall von Verunsicherung. Vielleicht aber auch einer ausgeprägten Einschränkung, wenn nicht Behinderung. Der nämlich, eines gewissen Grades sozialer Inkompetenz, gegenüber des hilfsbedürftigen jungen Menschen.

Ich erinnere mich an die Worte eines Freundes, der sich im Zusammenhang dessen, was wir hinlänglich oder oft auch bedenkenlos als Behinderung ermessen, sagte „Behindert ist man nicht. Behindert wird man.“ Behindern tun wir Menschen mit Einschränkungen, grenzen sie aus, versäumen es, Bedingungen zu schaffen, in denen jeder Mensch in jeder Variante des Seins ein angemessenes Leben führen kann.
Welcher Maßstab aber liegt dem Begriff Behinderung zugrunde? Ein Mensch, der sich nicht aus eigener Kraft fortbewegen kann, ist behindert. Ein Mensch, der sich nicht verbal artikulieren kann, wie der zuvor beschriebene, ebenso. Ein Mensch, der ans Bett gefesselt ist, künstlich ernährt werden, gereinigt und gepflegt werden muss, im Besonderen. Ein Mensch der sich durch optische Merkmale, Besonderheiten seines Aussehens, damit einhergehend gewisse
Verhaltensauffälligkeiten, gilt als behindert. Sie können vieles nicht. Vieles aber doch.
Werden aber reduziert auf das, was ihnen nicht möglich ist.

Es gibt bei jedem Menschen mehr Dinge die er nicht kann gegenüber denen die er kann oder beherrscht.

Die Individualität der menschlichen Art umfasst Milliarden von Varianten, die wir größtenteils als normal erachten. 8,5 Milliarden Menschen. Ihre Zahl steigt täglich. 8,5 Milliarden Individuen, von denen keiner dem anderen gleicht. Trotzdem unterscheiden wir in Abnormalität und Normalität, wobei ich nicht von Merkmalen wie Hautfarbe, kultureller oder auch religiöser Vielfalt spreche. Jeder ist auf die ein oder andere Weise in irgendeiner Form, in irgendeinem Grad eingeschränkt. Ich zum Beispiel war nie gut in Mathematik. Ich brauchte Hilfe. Ich kann auch nicht besonders gut kochen und ohne Kochbuch als Hilfsmittel hätte ich mich wahrscheinlich schon selbst vergiftet. Eine Form der Hilfsbedürftigkeit. Mathematik und Nahrungsaufnahme sind zwei wesentliche Merkmale unseres Lebens. Niemand aber käme auf den Gedanken, diesem Mangel einen Behindertenstatus zuzuweisen.

Jeder braucht für irgendetwas ein Hilfsmittel, dass das Leben im Alltag erleichtert. Was wir aber tun ist eine Art Klassifizierung. Eine Bewertung des jeweiligen Grades. Und wenn dieser eine gewisse Grenze überschreitet, grenzen wir aus. Behindern wir.

Der Gesetzgeber schafft Gesetze, die dem entgegenwirken sollen. Man hat einen furchtbar sperrigen Begriff dafür geschaffen. Inklusion. Er verfügt, Menschen trotz gewisser Einschränkungen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.Bildung zugänglich zu machen. Teilhaben zu lassen an „normalem“ Leben. Menschen die Möglichkeiten eines Lebens in Würde, Anerkennung und Chancenvielfalt in der Mitte der Gesellschaft zu geben. Weigern wir uns, wird dies mit gewissen Zwangsmaßnahmen belegt.


Was aber der Integration zugrunde liegen sollte, ist ein Bewusstsein. Eine Selbstverständlichkeit. Ein nicht reduzieren der Menschen auf eine Variante ihres Seins, die nicht der sogenannten Norm entspricht. Menschen und Norm sind zwei Begriffe, die nicht zusammengehören. 
Ich bin Menschen begegnet, die soweit gingen, dass sie Hilfsbedürftigkeit ab einem gewissen Grad für ekelig befanden. Ich gebe zu, es ist in mancher Situation grenzwertig und auch ich bin nicht frei von Vorbehalten. Aber es geht in letzter Konsequent immer um einen Menschen. Um Verantwortung dem nächsten Gegenüber, niemandem einen Platz in der Mitte der Gesellschaft vorzubehalten.

Was auch immer diesem Bewusstsein zugrunde liegt. In meinem Fall ist es ein gewisses Maß an Dankbarkeit und Demut hinsichtlich des Privilegs, dass ich dieser Hilfe noch nicht bedarf.







Montag, 12. Februar 2024

Die Geister, die ich rief...

Charlotte Knobloch, Auschwitzüberlebende und ehemalige Vizepräsidentin des jüdischen Weltkongresses, nannte es mal den Durchlauferhitzer für Hass und Gewalt. Die Rede ist von einer Institution, die anders gedacht war. Gedacht als Medium der Vernetzung der Welt, nicht nur im wirtschaftlichen Sinne. Als Medium des Informationsaustausches der Wissenschaft. Medium, das Bildung zugänglicher macht. Medium, das Menschen durch sogenannte soziale Netzwerke miteinander in Kommunikation setzt. Einander näher bringt.

Ausgerechnet er nun, einer der Entwickler des Internets, Schöpfer des Begriffs Virtuell Reality, der Kanadier Jaron Lanier, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, verliehen 2018 in der Frankfurter Paulskirche, wandelte sich zu einem der aktivsten Netzwerkkritiker. Benennt es als „grandiose Fehlkonstruktion“. Mahnt durch Bücher und Vorträge die Weltöffentlichkeit unablässig zu einem umsichtigen und gewissenhafteren Umgang. Es ist entartet. So war es nicht gedacht.

Natürlich ist es naiv zu glauben, dass Erfindungen ausschließlich dem Guten dienen. Da war die Erfindung des Papiers, das die Übermittlung von Nachrichten in schriftlicher Form ermöglichte. Da waren Guttenbergs bewegliche Blei-Lettern, die der Erstellung von Druckerzeugnissen gewaltigen Umfangs, respektive dem Buchdruck dienten. Das erste Massenmedium, die Lutherbibel, die dem Kirchenstaat, dem kaum an einer gebildeten, aufgeklärten Bevölkerung gelegen war, den Garaus machte.

Vergleichbar ohne Frage, die Weiterentwicklung bis in die Gegenwart. Die Massenmedien unserer Zeit. Das weiße Blatt, das neben dem Tugendhaften, neben dem Verbreiten von Erkenntnissen und Wahrheit auch dem Gegenteil in die Hände spielte. Der Provokation durch gezielt gesetzte Skandale, der Verbreitung der Lüge, der Manipulation, dem Säen von Unfrieden durch Hass und Hetze. Und stetig entwickeln wir neue Mechanismen, die es dem Geist schwer machen, den Ungeist zu erkennen. Die es hingegen dem Ungeist erleichtern, sein Gift zu verstreuen. Das Gift, das in der Dummheit oder den aus Bequemlichkeit Denkfaulen unter den Konsumenten so fruchtbaren Boden findet.

Einmal in der Welt, hat das Böse immer einen gewissen Vorlauf. Hat es leicht im „World-Wide-Web“. Nutzt die „dunkle Seite der (Internet) Macht“, das sogenannte Darknet, in dem sie sich nahezu ungestört bedienen, die Brandstifter, die sich Radikalisierenden, eben der Ungeist, für ihren Feldzug gegen Rechtsstaat und Frieden. Bis man es enttarnt, vergeht Zeit. Entwickelt sich eine gewisse Dynamik. Entwickeln sich weit verbreitete Netzwerke, die kaum mehr zu beherrschen sind. Illegaler Handel mit Drogen. Mit Waffen aller Art. Darüber Prostitution, Menschenhandel in globaler Dimension.

Dass das Internet nicht das Paradies ist, das sich anfangs viele erträumt hatten, ist inzwischen den meisten klar. Die Schuld an diesen Fehlentwicklungen rund um das Netz wird in der Regel den großen Internet- und Tech-Konzernen wie Facebook oder Google zugeschrieben. Für den Virtual-Reality-Pionier und Internet-Kritiker Jaron Lanier ist das jedoch nur die eine Seite der Wahrheit. Ihm zufolge hat auch die Technik-Community ihren Teil dazu beigetragen, dass das Netz heute „ruiniert“ ist, wie er sagt.
Aber vielleicht übersieht man auf der Suche nach dem Schuldigen noch einen weiteren Aspekt. Und ich denke hier besteht der größte Teil des Handlungsbedarfs. Den genannten Konzernen ist vordergründig an kommerziellen Erfolgen gelegen. Von dieser Strategie werden sie sich kaum distanzieren. Für mich aber liegt die Schuld, wenn von Schuld überhaupt zu reden ist, beim Adressaten. Beim Nutzer. Bei jedem, der sich manipulieren lässt durch Halb- und Unwahrheiten, deren Quellen oft so transparent sind, das sie auch den Dümmsten offenbar werden müssten.Oder bei denen, die mit wissenschaftlicher Raffinesse, mit Leidenschaft und Enthusiasmus Dinge entwickelten, die dem Fortschritt der Zivilisation dienten. Nicht ihrer Vernichtung.

Kann man die Erfindung des Rads verurteilen, das den Ackerbau vereinfachte, den Handel im größeren Rahmen, aber auch die Logistik von Kriegsgerät ermöglichte? Den Ausbau der Bahn, der Nationen miteinander verband, uns Reisen ließ, der aber auch millionenfache Deportationen ermöglichte? Die Erfindung des Dynamit, das den Bergbau, den Straßenbau vereinfachte, in die falschen Hände geraten aber zur verherenden Waffe verkam?

Sich dem Fortschritt zu verweigern, war schon zu Zeiten der Erfindung des Buchdrucks ausgemachter Irrsinn. Mit der Erfindung des Internets ist es nichts anderes. Mit Erfindungen, mit denen sich nun heranwachsende Generationen auseinanderzusetzen haben, beispielsweise der Künstlichen Intelligenz, wird es sich ebenso darstellen. Sie kann sich zum Segen, kann sich zum Fluch entwickeln. Es werden Kontrollmechanismen und Regulierungsbehörden geschaffen, die Schlimmstes zu verhindern suchen. Doch versucht werden wird es durch jene, denen an allem anderen gelegen ist, nur nicht an Fortschrittsgeist im positiven Sinne.

Setzen wir also auf Aufklärung und Bildung. Auf gesunden Verstand, auf Neugierde und hieraus resultierende, auch unbequeme Fragen und auf das freie Denken, das wir uns weder von denen, die uns die Lüge als Wahrheit verkaufen wollen, noch von Maschinen- und Softwaretechnologie aus der Hand nehmen lassen dürfen. Wie schaffen uns Bedingungen, denen wir in Teilen heute schon nicht mehr gewachsen sind. Situationen, die uns nicht mehr unterscheiden lassen zwischen Fake, Deepfake (Neudeutsch) und Wahrheit.

Jaron Lanier ist kein Feind des Internets, wie er mehrfach betont. Ihm geht es aber darum, die sozialen Netzwerke und deren Macht wahrzunehmen, damit das Silicon Valley Raum erhält, „um an sich zu arbeiten“. Solch ein Erziehungsgedanke mag naiv klingen. Wenn man aber bedenkt, wie wenig die bisher eingeleiteten Regulierungen gegen die Schattenseiten der Netzkommunikation ausrichten konnten, fragt man sich schon, ob es nicht an der Zeit ist, solch alternativen Schocktherapien Folge zu leisten. Machen sie den Nutzer doch wieder zu dem, wofür das Netz mal stand: zum frei denkenden Geist im Sinne von Nachhaltig in Fortschritt und Frieden.



Montag, 29. Januar 2024

„J'accuse“ - Ich klage an:

Ort des Schauspieles: Das renommierte Landhaus Adlon in Potsdam. Man lud zum geheimen Treffen am „geheimen“ Ort. Sie erkennen die Ironie? Auch diesmal mit „anschließendem Frühstück“? In der Historie Bewanderte werden wissen, worauf ich anspiele. Man schmückte sich mit Honoratioren einer gewissen Partei, sich präsentierend unter müllsackblauem Logo. Schmückte sich mit geladenen Gästen aus allen Bereichen der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Politik. Nicht zu vergessen Delegierte rechtsnationaler, völkischer Verbände, strafrechtlich in Erscheinung getretene, rechtskräftig verurteilte Gewalttäter, denen voreilend ein gewisser Märtyrer- respektive Heldenstatus zuteilwurde. Alle aber sich verdient gemacht habend in ihren Bemühungen, rechtsnationales Gedankengut und entsprechende Ideologien verbreitende Institutionen, Verbände, Gruppierungen tat- und finanzkräftig zu unterstützten. Gemeinschaftlich suhlte man sich im selbst produzierten Dreck wie die sprichwörtliche Sau vor dem Futtertrog. Es ging um Erarbeitung eines so wörtlich: „Masterplans für Deutschland. Um die Reinhaltung der deutschen Rasse, Verzeihung, Ethnie und eben darum, was notwendig wäre, dieses Ziel zu erreichen. Deportationen. ggf. unter Anwendung physischer Gewalt wären nur ein probates Mittel. Massen-Remigration, Ausweisung selbst Inhaber der deutschen Staatsbürgerschaft, Verbot von Ausübung bestimmter Gewerbe. Beschneidung von Religionsfreiheit wie der Ausübung kultureller Traditionen.- Wie gesagt. Ich spreche nicht von rechtsnationalem Pöbel. Primitiv in Auftreten und Sonderschuld-Rhetorik. Es waren Vertreter höchster Kreise. Vermögend. Intelligent, einflussreich. Zitat aus den Protokollen der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942: „Erklärtes Ziel muss es sein, den deutschen Lebensraum von fremd-rassischen Völkern zu säubern“. Hieran anlehnend die Bundestagsabgeordnete der AfD Gerrit Huy - Zitat: „Man müsste eine Art Trabantenstaat in Afrika installieren, in die man jene, man bezifferte die Zahl der zu deportierenden Bürger fremdländischer Herkunft mit 20. Millionen, verbringen könne. Unterstützer der bisherigen Zuwanderungspolitik könnten diese gleich begleiten.

Nun: hätte es nicht der Umstand mit sich gebracht, dass es dann doch nicht so klappte mit oberster Geheimhaltungsstufe, wäre es also nicht gelungen, ein paar aufgeweckte Journalisten der Institution für Recherche und investigativen Journalismus „Correktiv“ einzuschleusen, die die Öffentlichkeit auf sehr besondere Weise über die Inhalte dieses Treffens unterrichtete, in dem sie die Protokolle dem Berliner Ensemble zur Verfügung stellte, die hieraus spontan eine szenische Lesung vor voll besetzem Haus gaben. Das Bild des in Vorbereitung befindlichen Bösen hätte sich kaum offenbart. Ebenso wenig aber das Bild der Passivität einer Regierung und ihrer Organe, die wegschaut. Die des Handelns unfähig oder unwillig. Die eine seit Jahrzehnten schwelende und anwachsende Gefahr als solche nicht erkennt oder nicht erkennen will.

Von Zeit zu Zeit bringt die Geschichte Menschen hervor, die durch besondere Weise von sich reden machen. Menschen, die sich engagieren. Menschen von Format und Courage. Menschen, die sich, wenn es die Situation erfordert, auch unorthodoxer Mittel bedienen, etwas zu erreichen oder durchzusetzen, das ihnen selbst für den Augenblick vielleicht zum Schaden gereichen mag, der Allgemeinheit aber dienlich ist. Es war im April 1968, als die Bürgerrechtlerin Beate Klaasfeld ihrer Empörung über den Umstand, dass eine nicht unmaßgebliche Gestalt im NS-Staat, Kurt Georg Kiesinger, damals Bundeskanzler der 3. Bundesregierung nach Proklamation der BRD, diesem im hohen Hause des Deutschen Bundestages, dadurch Ausdruck verlieh, demselben vor laufenden Kameras eine schallende Ohrfeige zu erteilen. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Kiesinger, dem so vehement daran gelegen war, den rechtsnational belasteten Teil seiner Biographie zu verschleiern, musste seinen Hut nehmen. Nun war Kiesinger kein Einzelfall. Den personellen Notstand der Regierung glich man mehr oder weniger gezwungenermaßen durch jene aus, über deren Vergangenheit man lieber Stillschweigen wahrte. Zitat Konrad Adenauer: „Man sollte schmutziges Wasser nicht wegschütten, solang man kein sauberes zu Verfügung hat.“ Diesem Grundsatz war es schlussendlich geschuldet, dass die Verfolgung der Täter in der jungen Bundesrepublik nur sehr unzureichend erfolgte. Man denke an die im Bundestag durchgesetzte Reform des Strafrechtes am 23.März 1965, die die Verjährung von NS Verbrechen rückwirkend auf den 01.Januar 1950 datierte. Es wurde später wieder aufgehoben, doch zunächst mochte es manchem derer, die Blut an ihren Händen trugen, den Hals gerettet haben.

Die Courage einer Beate Klaasfeld, sie hatten ihren Preis. Auch andere Aktionen, beispielsweise die geplante Entführung, also die gemäß geltender Gesetzte illegale, doch nach menschlichen Erwägungen gerechtfertigte Überstellung eines gewissen Kurt Lischka, im Krieg hoch dekoriert im Rang eines SS-Obersturmbannführers, maßgeblich verantwortlich für die Deportation von 75.000 französischer Juden, hierfür in Frankreich, in Abwesenheit zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt, nach dem Krieg ein sorgenfreies Leben, wenige Kilometer entfernt der Grenze des Landes führend, das nach ihm fahndete. Die Folge, eine Haftstrafe, jedoch nicht etwa für den Mörder.

Vielleicht ist es manchmal notwendig, sich solch rechtsbeugender Methoden zu bedienen. Wenn diese auch nicht unmittelbar zum Ziel führte, so rüttelte sie doch die Öffentlichkeit auf. Zwang den Staat und seine Organe schließlich zum Handeln. Brachte es, dass schlussendlich doch eine rechtmäßige Verurteilung Lischkas im eigenen Land erfolgte. Der demokratische Rechtsstaat sieht Mittel vor, dies auch auf zivilem Weg zu erreichen. Dies aber bedarf einer Mehrheit. Einer denkenden, ggf. lauten Mehrheit. Die Schwäche der Demokratie besteht bekanntermaßen darin, dass sie auch der Dummheit eine Stimme gibt. Und diese, wie Erich Kästner schon in einem Gedicht beschreibt, pflanzt sich schnell und unkontrolliert von selber fort.

Der Geist der einstigen nationalsozialistischen Ideologie war immer existent. Äußerte sich in kleinen Gruppierungen. In der Bildung von Organisationen und Parteien. Aus ihr heraus ergingen Verbrechen, menschenverachtendes Unrecht. Sie bildete einen Teil der Gesellschaft. Fand ihren fruchtbaren Boden in gewissen sozialen Missständen. In Existenzängsten. In Desorientierung. Eine durchaus vergleichbare Situation zu der, aus der sich ab 1923 der NS-Staat einwickelte. So aber, wie wir die Geschichte hinterfragen müssen, ob es damals nicht zu verhindern gewesen wäre, so sollten wir diese Frage heute stellen und dies zu einem Zeitpunkt, da Schlimmstes noch zu verhindern ist, denn schließlich haben wir, das Volk, die Politik doch gelernt aus der Vergangenheit?

Am 06.Februar 2013 gründete sich eine Partei, deren erklärtes Ziel das Wiedererstarken eines völkisch- nationalen Bewusstseins ist, das sich über andere Völker, andere Kulturen, andere Ethnien erhebt. Diese ausgrenzt, sofern sie diesem Land nicht doch auf die ein oder andere Weise dienlich sind. Ich thematisiere hier bewusst nur diesen einen, gegen jedes Maß an Vernunft, an Humanismus, an Völkerverständigung in Sinne eines globalen Denkens, Teil des Parteiprogramms.

Noch einmal: Ein demokratischer Rechtsstaat soll und muss auch unliebsamen Lagern eine Bühne bieten. Dass aber genau das demokratische Recht, auf das sich populistische Parteien wie die AfD berufen, diese am Ende zerstört, was durchaus angestrebtes Ziel ist, das sich niederschlägt in Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, der Ausgrenzung von Minderheiten, der Einschränkung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und deren Rechte, die Instrumentalisierung und Ideologisierung von Kunst und Kultur, muss doch jedem noch so Verblendeten offensichtlich sein, zumal die Instrumente, derer diese Partei sich bedient, ihre Inhalte zu vermitteln, weit über die der manipulativen Rhetorik, die für sich allein genommen nicht selten den Tatbestand der Volksverhetzung nach §130 STGB erfüllt, hinausgehen.

Und die regierenden Parteien sehen angesichts dieser sich fortsetzenden Entwicklung der Vorbereitung staatlich legitimierten Terrors, die mittlerweile nicht einmal mehr hinter vorgehaltenen Hand stattfindet, „immer noch keinen Handlungsbedarf“. Zitat Michael Kretschmer. Dies alles stellt für mich eine eklatante Schwäche der amtierenden Regierung dar, die schon allein aus der Perspektive der Geschichte unter keinen Umständen zu billigen ist.

Blättern wir zum Vergleich noch einmal zurück in der Historie dieses Landes. Am 17.August 1956 erging das bisher einzige Parteiverbotsverfahren der Bundesrepublik gegen die KPD, der man Volksverhetzung vorwarf. In Sachen AfD hat man es bislang lediglich zum Beobachtungsstatus durch den Verfassungsschutz gebracht. Jene Institution, dies weiß man nicht erst seit der Anschlagsserie des NSU, der 10 Jahre lang ungestört in Deutschland morden konnte, die bekanntlich auf dem rechten Auge blind ist.

Noch ein Vergleich gefällig? Eine Episode, die die Verhältnismäßigkeit der Mittel ein wenig in den Vordergrund stellt. Am 05. Juni 2008 ereignete sich folgender Vorfall. Eine Gruppe Jugendlicher, Mitglieder der jungen Grünen, äußerte ihre Missbilligung gegenüber der damaligen Bundesregierung dadurch, dass sie vor einer Einrichtung der Bundeswehr den Mast einer Deutschlandfahne anpinkelte. Eine Tat, über deren Geschmack man streiten mag, die gem. § 90a StGB jedoch eine Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole darstellt, die mit Freiheitsentzug bis zu 3 Jahren geahndet werden kann. Ein harmloser Streich, gegen den das Gesetzt ein kategorisches Strafmaß vorsieht. Das Heraufbeschwören einer Situation, die die Grundfesten dieses Staates in Frage stellt. Die sie bekämpft und eine Gefährdungslage für die Zivilgesellschaftlich hervorruft, mit sträflicher Passivität zu begegnen; stellt für mich mindestens eines dar. Nämlich die Lächerlichkeit der hier zum Handeln verpflichteten Institutionen.

Ich glaube tatsächlich, es bedarf einer anderen Kraft, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Eine Kraft, die sich über die staatlichen Gewalten hinwegsetzt. Eine Revolution der Vernunft. Dass es funktioniert, haben wir in den letzten Tagen und Wochen erlebt, als bundesweit rund hunderttausende Menschen trotz Eiseskälte auf die Straße gingen, sich solidarisch zeigten mit all denen, gegen die diese Partei, die AfD und ihre Anhänger, nach Kräften zu Felde zieht. Ich spreche nicht von tätiger Gewalt. Ich spreche von deutlicher Verbundenheit. Von unablässigem Erheben der Stimme. Von Maßnahmen des zivilen Ungehorsams in einer Größenordnung, die den Staat zum Handeln zwingt. Die Parteien, die sich gegen die Verfassung des Landes stellen, in ihre Schranken weisen. Maßnahmen, die den Fortbestand eines sozialen Rechtsstaates gewährleisten. Wenn es erst soweit ist, dass rechte Parteien gewisse Positionen innerhalb der Gewalten besetzen, ist der Weg nicht mehr weit, diesen Rechtsstaat von innen heraus auszuhöhlen. Dies gilt es mit allen gebotenen Mitteln, oder was man für geboten erachtet, zu verhindern. Gewalt ist keine Lösung. Sie sprechen sich für Gewalt aus. Benennen es als Mittel, das ihnen angemessen erscheint, ihre Inhalte durchzusetzen. Wenn wir es ihnen gleichtun, ihnen mit ihrer Sprache antworten, ist die Sache verloren.

Hass und Zwietracht ist die Sprache der Unvernunft. Ich habe mich immer gegen die gewaltsame Beilegung von Konflikten ausgesprochen und werde es auch weiterhin mit aller Kraft tun. Aber wenn die schärfste Waffe, das Wort, abstumpft? Die Regierung Kiesinger wurde mir einer Ohrfeige zu Fall gebracht. Die Öffentlichkeit aufgerüttelt gegen einen von NS-Funktionären durchsetztem Regierungsapparat. Soweit darf es unter keinen Umständen kommen. Eine Ohrfeige wird dann nicht mehr genügen.

Die Hoffnung, eines Tages vielleicht doch zu einer befriedeten Gesellschaftsordnung im globalen Sinne zu gelangen, liegt nicht in militärischem Potential. Nicht in Großkapital von Banken und Versicherungen und Konzernen. Sie liegt nicht in der Befriedigung gedankenlosen Konsums. Nicht im von Parteien provozierten  Hass. Nicht in Missgunst. Nicht in Neid und nicht in der Angst, die aus all dem resultiert. Sie liegt im Geist und einen hieraus ergehenden sozialen Bewusstseins. In der Vernunft. In der Liebe.


Montag, 25. Dezember 2023

Versuch über einen Begriff

Ich weiß noch, dass Vater sich oft dieses Begriffs bediente, wenn er von dem Ort sprach, den er in seiner Kindheit verlassen musste. Er hatte etwas Feierliches in der Stimme, die nicht selten brach unter wehmütigen Gedanken. Melancholie, Trauer, etwas lassen zu müssen, noch dazu als Folge von Umständen, die das Furchtbarste offenbaren, dessen Menschen fähig sind. Ich spreche weniger von Krieg als von dem, was diesen damals wie heute vorangeht. Das Aussetzen von Verstand und Vernunft.

Ich war ein Kind. Zu klein, zu erfassen, was er meinte. Zuhause, das war für mich der Ort, an dem mein Hausschlüssel ins Schloss passte. War für mich eine Selbstverständlichkeit. Es war der Ort, an dem meine Eltern lebten. An dem ich die Schule besuchte. An dem Menschen lebten, die mein soziales Umfeld bildeten.

Dass es mehr ist als dies, sollte ich im Laufe meines Lebens erfahren.

Heute weiß ich, wovon Vater sprach. Zu Hause, das ist weniger ein physischer Ort als ein Ideal. Das sind Menschen, die dich lieben. Menschen, in deren Liebe du Schutz und Geborgenheit findest, die diese gleichermaßen durch dich erfahren. Menschen, die dich tragen. Die dich sehen und erkennen. Die dich nicht reduzieren auf deine Fehlbarkeiten. Dich nicht bewerten an Unzulänglichkeiten und Schwächen. Dich nicht bewerten an dem Nutzen, den sie durch dich erfahren.

Natürlich ist es ein Stück weit auch dieser andere Ort. Deine Adresse. Dein Haus. Deine Wohnung, die du dir nach Geschmack, Ermessen oder Möglichkeiten mehr oder weniger behaglich gestaltest. Aber all dies ist immer nur das Gefäß. Der Rahmen. Füllen können wir ihn auf die vielfältigste Art mit Dingen, die uns am Herzen liegen. Die unseren Vorstellungen von gutem Geschmack entsprechen. Ein Zuhause aber ist es erst dann, wenn diese Wärme und Behaglichkeit einem Gefühl entspringt, das vielleicht mit Worten kaum zu beschreiben ist. 

Ich glaube, dass Vater dies meinte, wenn er von Zuhause sprach.

Ich glaube überdies, dass ich mein Leben lang, zunächst unbewusst und von einer inneren, undefinierbaren Sehnsucht getrieben, nach dem suchte, was er meinte.

Sonderbarer Weise konnte er, konnte mir meine Familie diese Werte nie recht vermitteln. Das, was man ihm und seiner Generation nahm, der heranwachsenden Generation zu vermitteln, war ihm kaum gegeben. Aber die Sehnsucht nach all dem, ergehend aus dem, was ich in Vaters Miene las, wenn ich es auch damals und lange Zeit in Folge nicht recht deuten konnte, treibt mich bis zum heutigen Tag.

Bis zum letzten Tag seines Lebens sprach er von Zuhause. Ich glaube, er hat es nie mehr gefunden. Er hat ein Haus gebaut. Genoss soziale Sicherheit. Gründete eine Familie. Wie gesagt: Das Gefäß. Aber es zu füllen mit Inhalten, die man Liebe nennt, ist ihm nicht gelungen. Die Form von Liebe, nach der ich mein Leben lang suchte, nämlich anzukommen. Angenommen zu werden. Bleiben zu dürfen. Die Tür hinunter sich schließen zu können in der Gewissheit, hier gehörst du hin. Hier bist du zuhause...

Ich habe mein Leben nie nach materiellen Werten ausgerichtet. War ein Idealist. Ein Träumer. Ein Liebender. Erfuhr hierfür nicht selten Spott und Ausgrenzung. Werte trotz allem, denen ich bis zum Ende meines Weges folgen werde. Wenn ich es nicht finde, gehe ich eines Tages zumindest in der Gewissheit, mir selbst treu geblieben zu sein, sowie dem einen oder anderen gegeben zu haben, was ich selbst selten erfuhr.