Es geht längst hinaus über den antiken olympischen Geist. Längst ist es zu einem überdimensionierten Medienspektakel, einem Politikum, einem kommerziellen Ereignis ohnegleichen entartet.
Doch über all dem ist es vielleicht doch noch das, was den Olympischen Spielen der Antike zugrunde lag, nämlich: „Alle Völker in friedlichem Wettstreit zusammenzuführen.“ Oder wie es der Präsident des Organisationskomitees der Olympischen Spiele von Paris – Tony Estanguet - formulierte: „Es gibt einen Ort, an dem alle Nationen und Religionen der Welt friedlich zusammen sind: Olympia.“ Und um es abzurunden, die Worte des Begründers der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin: „Das Wichtigste an den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme, wie auch das Wichtigste im Leben nicht der Sieg, sondern das Streben nach einem Ziel ist.“
Dem entgegen steht ein anders Bild. Das Bild, das uns 45.000 Polizisten und 10.000 Soldaten vermitteln, die die Stadt zu einer Festung ausbauten. Ist dies noch verhältnismäßig? Vermittelt wird das Bild einer allgegenwärtigen Bedrohung. Ist diese wirklich gegeben? Schürt dieses Aufgebot martialischer Sicherheitskräfte derartiger Dimension allein nicht Hass, Gewaltbereitschaft und Ausgrenzung? Tatsächlich leben wir in dieser omnipräsenten Bedrohungssituation. Kriege in Europa, dem Nahen Osten. Iran, Palästina, Israel. Sie überschatten unser tägliches Leben. Unseren Alltag. Und schlussendlich auch die Olympischen Spiele.
Und doch kann und will ich nicht glauben, dass die Antwort, die man auf diese Bedrohung gibt, die Lösung beinhaltet bzw. der Situation zuträglich ist. An die 210 Staaten umfasst das Gefüge der Welt. Rund 30 Staaten befinden sich laut Gutachten der Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Konfliktursachenforschung anhaltend im Kriegszustand. Die Zahl der an den Spielen teilnehmenden Nationen umfasst etwa denselben Wert. 204 Nationen kämpfen gegeneinander. Kämpfen um Siege, um Medaillen. Und überdies leben sie in friedlicher Gemeinschaft Seite an Seite. Bilden eine Einheit im Sinn dessen, was ich anfangs zitierte.
Es ist der Geist Coubertins. Es ist die Vision Martin Luther Kings, der die Völker der Welt zusammen an einem Tisch sitzen sah. Es ist die Botschaft Mahatma Gandhis und seiner „Konzeption des gewaltlosen Widerstands“, die am Ende ans Ziel führt. Und es ist die unbedingte Aufgabe der Generationen, der Völker, dies über die Zeit der Olympischen Spiele hinaus in die Welt zu tragen. Wir können es als Menschheit nur gemeinsam schaffen, sagt der Philosoph Erich Fromm. Nur wenn wir beginnen, uns als Welt- und Wertegemeinschaft zu verstehen. Nur im globalen Denken, das sich weder an Ethnien, an Ideologien noch an Staatsgrenzen bricht, und dies unter Einbeziehung aller Faktoren, also nicht nur im Sinne wirtschaftlicher Interessen, kann es funktionieren.
Nicht die Ideologen, die Demagogen, nicht die Spötter unter den Lesern dieses Beitrags werden recht behalten. Ihrer halsstarrigen Phrasen bedarf es nicht. Es bedarf der Ideale, der Visionen und der Träume von Menschen wie
den
angeführten. Und es bedarf des Mutes jedes Einzelnen, für diese
einzustehen. Vielleicht sogar ein Stück weit der Unbekümmertheit
und Naivität eines kindlichen Verstandes, der noch nicht
unterscheidet nach Status, Herkunft und Religion. Besonders aber
bedarf es der Vernunft und des Verstandes kritischer Geister, die
nicht müde werden zu mahnen. Die ihren Blick nicht abwenden. Nicht
wegschauen, weil es bequemer ist.
Das Streben nach einem Ziel,
laut Coubertin, im Sinne eines sportlichen Wettkampfes, lässt sich
ohne weiteres übertragen auf andere Inhalte:
Das Ziel einer
befriedeten Weltgemeinschaft gemäß unseres ureigenen Wunsches nach
Frieden und Liebe, sowohl in der kleinsten gesellschaftlichen Einheit
wie auch unter den Nationen und Völkern. Frieden und Liebe, frei von
Niedertracht, Neid und Missgunst.
16
Tage dauern die Spiele von Paris. In der Antike herrschte während
der Zeit der Spiele der sogenannte Olympische Friede. Es wäre
wünschenswert, dies zu übernehmen. Und dann einfach vergessen, die
Waffen wieder aufzunehmen.
Coubertins
Idee war es, als er sich 1894 entschloss, die Olympischen Spiele der
Neuzeit nach altem Muster zu begründen, die nationalen Egoismen
dauerhaft zu überwinden und für internationale Verständigung
einzutreten. Nach seiner Auffassung sollte sich die „Jugend der
Welt“ lieber in sportlichen Wettkämpfen messen als sich auf dem
Schlachtfeld zu bekriegen.
Dass es bislang kaum gelang, liegt nicht an Despoten, Autokraten und der Eitelkeit narzisstischer Tyrannen. Es liegt nicht an der Politik, der wir so gern das Maß an Verantwortung zuweisen, dem wir selbst außerstande sind zu genügen. Es liegt an jedem einzelnen von uns selbst.