Sonntag, 30. April 2023

Menschen 40

Es war der Vorabend dieses Festes, an dem einmal jährlich Begriffe wie Nächstenliebe, Herzenswärme, Geborgenheit zu Ritualen werden. Es gab keinen konkreten Grund für seinen Besuch. Ebenso wie der Zeitpunkt willkürlich gewählt war. Jenes Fest bedeutete ihm nichts. Jedenfalls nicht im Sinne dessen, was die meisten Menschen ihm für gewöhnlich beimaßen. So hatte er es auch nicht eilig, sein Ziel zu erreichen. Im Gegenteil. Es schien, als zögerte er die Ankunft bewusst hinaus.
Es war der letzte Zug dieses Tages, der ihn brachte. Den einzigen Fahrgast, der hier den Zug verließ. Der die behagliche Wärme des Abteils nun gegen eine unwirtliche, nasskalte Winternacht tauschen sollte.
Die Ledersohlen seiner eleganten Schuhe hallten wider vom nassen Asphalt des letzten Stück Weges, dessen Vertrautheit er sich nur widerstrebend eingestand. Alles, das diesen Ort ausmachte, widerstrebte ihm, wenn er auch wusste, dass es weniger die Stadt an sich war, als die Erinnerungen, die er mit ihr verband. Er wusste nicht, was er hier sollte. Was ihn an diesen Ort führte. Wie lange er bleiben würde. Und doch trieb ihn eine Kraft, die unerklärlich schien. Die nicht greifbar war. Etwas in seinem Inneren, dass ihm diesen Weg wies. So lief er gleichmütigen Schrittes durch die Nacht. Den Mantelkragen hochgeschlagen. Den Schal fester um den Hals gewickelt. Obschon er weder die Nässe noch die Kälte, die seine Kleider langsam durchdrang, bald nicht mehr spürte.
Die alte Frau öffnete ihm. Eine kurze, unterkühlte Begrüßung. Es war spät. Unter diesem Vorwand zog er sich sogleich zurück in dieses Zimmer, das ihn in seiner schmucklosen, fast schäbig anmutenden Nüchternheit schon zu erwarten schien.

Dass er sich von ihnen, den Menschen dieser Stadt ausnahm, anders war als sie, die hier nie weg kamen, anders als die, in deren Mienen sich die Farblosigkeit der Stadt reflektierte oder jene, die kaum von Neugier getrieben die Vielfalt der Welt bestenfalls aus den Schlagzeilen einer großformatigen Tageszeitung entnahmen, deren Anspruch ans Leben sich im Konsum von 150 TV Kanälen zu erschöpfen schien, denen das Café, das er vergeblich suchte, ein billiger Backshop war, der ein Produkt verkaufte, deren Qualität sich über geschickt inszenierte Werbeformate, kaum aber über das, was man hinlänglich als Wahrnehmung bezeichnet, - eine Eigenschaft, die seinem steten analytischen Blick für die Dinge die seine Welt ausmachten voranstand, war ihm allgegenwärtig.

Er spürte ihre Blicke. Blicke, in denen er Fragen las. Aber so wenig sie erkannten, erkannte auch er. Schemenhafte Vermutungen bestenfalls. Er tauchte auf und würde wieder verschwinden. In ihrer Wahrnehmung versandete die Frage, wer er sei.
Der Gedanke, ihm schon einmal begegnet zu sein. In seiner eigenen würden die Erinnerungen weiter bestehen. Erinnerungen an seine Vergangenheit. An ein gemeinsames Stück Weg mit ihnen, denen er damals so wenig glich wie heute. Er fühlte das. man sich nach ihm umdrehte. Ihren Blicken im Vorübergehen hielt er sehr bewusst stand, bemüht jedoch den stummen fragen keine Antwort zu schenken.

Und so suchte er die Orte, die Wege seiner Vergangenheit.

Und er sah sich wieder als der, der er war, als er ging in dieser Nacht damals. Als der, der sich schwor, diese Stadt, diese Wege nie mehr zu betreten. Und er sah sich flüchten vor denen, die ihn verachteten. Ihn verspotteten. Und er sah den Jungen mit gebeugter Haltung. Gebeugter Seele. Mit Narben auf der Seele. Unterdrückten Tränen, weil man nicht schwach war, nicht weinte in der Welt, in die er geboren wurde. In dem Haus, in dem er nun saß. Nachdachte über gestern und heute. Über das Band zwischen gestern und heute, das er Zeit seines Lebens zu zertrennen suchte. Es versuche, doch davon abließ aus Angst, denn das Heute ist nichts ohne das Gestern.

Tage, Nächte nach seiner Ankunft stand er wieder am Bahnsteig. Nacht. Menschenleer, verregnet. Er würde den Zug besteigen. Die Türen würden sich schließen. Der Zug sich in Bewegung setzen. Wie ein Dieb in der Nacht war er gekommen. Ebenso schlich er sich davon. Davon, in das Nichts seiner Existenz. Der ewig Suchende nach etwas, das er nicht einmal mehr benennen konnte. Eine einzige Frage stellte sich ihm im Moment, da er den Fuß auf die Schwelle der Waggontür setzte...

Und er dachte an den jungen Mann in jener Nacht vor 40 Jahren. Den Jungen, der sich auf den Weg machte zu Zielen, die bestenfalls in seiner Phantasie existierten. Einer Phantasie aber, die ihm in den schlimmsten Momenten seines Lebens Schutz bot. Die aber auch sein Anderssein begründete. Sein nirgendwo Dazugehören, weil er Dinge sah, die ihnen verschlossen blieben. Weil er fühlte, hörte, wahrnahm mit allen ihm gegebenen Sinnen. Weil dies sein Wesen und dessen Besonderheit darstellte, das ihm damals wie heute zum Außenseiter machte. An diesem wie an jedem anderen Ort seines Lebens.