Sie ist 23 Jahre jung, wiegt 46 Kg. Hat eine Geschichte. Hat eine Gegenwart. Hätte eine Zukunft, würde man ihr die nötige Hilfe zuerkennen. Ich begegnete ihr in den Räumen einer psychiatrischen Einrichtung dieser Stadt. Warum kommt mir der Titel eines Popsongs der 80ger Jahre in den Sinn? „Auf meiner Fahrt in die Klinik...“
Eine Station. Verschlossene Türen. Schreie hinter den Türen. Menschen, die sich als solche kaum mehr wahrnehmen, Gestrandete. Gebrochene. Perspektivlose, weil die Gesellschaft sie als solche stigmatisiert. Weil medizinische Hilfe, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen möglich, nach wirtschaftlichen Erwägungen aber kaum erfolgen kann. Medizin als Wirtschaftsfaktor. Menschlichkeit als Wirtschaftsfaktor. Haben sie noch einen Namen, die hier Verwahrten? Die hier Wartenden auf etwas, das doch nicht geschieht? Einstellung auf Medikation, die aus ihnen emotionslose Kreaturen macht. Apathisch, gleich Tieren im Käfig, sich die Gänge der Station auf und ab schleppend. Ausdruckslose Gesichter. Leere Blicke. Verzweiflung, sofern sie diese noch wahrnehmen unter ihrer täglichen Dosis Brom.
Hier begegnete ich ihr. 23 Jahre jung. 46 Kg schwer. Zerschnittene Unterarme. Zitternde Hände. Unruhe im Blick aus angstvoll geweiteten Pupillen. Sie liebt Musik. Ist intelligent. Differenzierten Denkens im Stande. Eine Eigenschaft, die ihr hier eher zum Nachteil gereicht. Sie glaubt nicht mehr an das Leben. An die Zukunft. Etwas, so die Medizin, das man durch Medikation nicht vermitteln kann. Nein, durch Pillen nicht. Aber vielleicht durch Menschlichkeit? Durch Wärme? Durch eine Hand im Dunkel, die ihr Werte vermittelt, die das Leben lebenswert machen? Die ihr bedeuten, was einst ein Bremer Esel zum Hahn sagte: „Etwas Besseres als den Tod findest du allemal“. Was sie krank machte, draußen unter den Menschen, in jahrzehntelangem Martyrium durch einen tyrannischen, despotischen Menschen, dem es nicht nur von Gesetzt wegen oblag, ihr Schutz, Fürsorge und Liebe zu vermitteln, setzte sich außerhalb dieser Nicht-Schutz-Zone ihres Elternhauses, im Haifischbecken der Öffentlichkeit, fort. Findet hinter den verschlossenen Türen dieser Einrichtung Ergänzung. Hier versammelt, Menschen die Hilfe brauchen. Fürsorge, die ihnen an jedem anderen Ort verwehrt blieb. Fürsorge hier aber kostet Geld. Geld, das nicht da ist. Mangel, der sich in vielen Faktoren widerspiegelt. Unzureichende Therapieprogramme, zum Teil durchgeführt durch inkompetentes, halbherzig seine Arbeit versehendes medizinisches Personal. Gestresst, überfordert durch ein Arbeitspensum, dem kaum zu entsprechen ist, heißt es im Subtext ihrer Aussage. Ergotherapie, Maltherapie, tiergestützte Therapie, Entspannungstherapie, Gesprächskreise die, sofern sie nicht ausfallen, mehr oder weniger der Selbstdarstellung wissenschaftlich belegter, nach statistischen Erkenntnissen zugeschnittenen, Maßnahmen, erdacht sind. Ein bisschen Freundlichkeit, ein Lächeln, eine flüchtige Umarmung sieht der Dienstplan des Pflegepersonals nicht vor.
Eine Hand voll Patienten, sich zusammenfindet in den Werkstätten der Ergotherapie, die Hälfe in selbst mitgebrachten Bücher lesend, die Therapeutin hinter einem Monitor Kreuzworträtsel lösend, im Blick die Uhr, den bleischweren Sekundenzeiger, der das wachsgleiche, zähe Verrinnen der Minuten bis zum Ende dieser Farce anzeigt: „Nun, wie fühlen Sie sich nach Ende dieser Stunde? “
Entlassung ins buchstäbliche Nichts. Liegt es an mir, dass der gewünschte Effekt ausbleibt? Eine ungestellte Frage, aus den Minen derer zu lesen, die hier um Hilfe ersuchen: „Nun, Frau XY: Berichten Sie doch mal aus Ihrer Kindheit. Da gibt es doch sicher viel Schönes, dessen Sie sich erinnern.“
Sie,
23 Jahre alt. 46 Kg schwer bei 175 Körpergröße. Im Gepäck das
Trauma einer Kindheit, einer Jugend in Gegenwart eines Menschen, der
in ihr vordergründig das Objekt einer pervertierten Begierde sah.
Schönes bestand bestenfalls aus den Stunden, da sie sich zu schützen
wusste vor dieser Hölle.
Diesseits der verschlossenen Türen,
Verwahrung. Jenseits der Türen, Wohnungslosigkeit.
Perspektivlosigkeit. Angst. Jahrelanges Warten auf einen ihrem
speziellen Krankheitsbild zugeschnittenen Therapieplatz, dessen
Notwendigkeit auch darin besteht, dass die Gesellschaft Menschen wie
sie ausgrenzt. Den Blick abwendet. Wir uns der Verantwortlichkeit
füreinander nicht bewusst sind. Menschen fallen lassen.