Mittwoch, 8. Juni 2022

Menschen 24

Ein Januarvormittag. Nieselregen ergoss sich über die Stadt. Nebel war an jenem Vormittag. Möglich aber auch, dass es über die Jahre zu einem Trugbild meiner Erinnerung wurde, weil es einfach der Stimmung entspricht, die ich im Folgenden zu schildern suche. Januar war es jedoch. Nasskalt, wie für diese Jahreszeit charakteristisch. Glaube ich.
Die kleine Gruppe, die sich um das in den Boden des Opferplatzes eingelassenes Denk- bzw. Mahnmal bildete, schaute mehr oder weniger interessiert in die Tiefe, in der sich ein weiß gestrichener Raum, gesäumt von leeren Bücherregalen, ihrerseits weiß, den Blicken öffnete.
Stille war unter den vielleicht 20 Umherstehenden. Angemessen, Andächtige Stille. Gleichgültige Stille, nicht wissend, was man nun fühlen soll vor jener Gedenkstätte. An jenem Ort. Wie aus dem Nichts schob er sich zwischen die Schauenden. Bekleidet mit einem langen Mantel, den Kragen hochgeschlagen. Trug er einen Hut? Schmal von Gestalt. Alt. Die Hände tief in die Taschen vergaben. Schweigend. Gleich den anderen. In die Tiefe schauend. Wie die anderen.
Was ihn ausnahm war, dass er zu sehen schien. Das ihm die Bedeutung des Platzes wie der historische Hintergrund nahe war.
Sehr nahe. Er war schon einmal an diesem Ort, hörte ich ihn leise sprechen. Mit behutsamer Stimme ergänze er seine Ausführungen um einige Worte. Die anderen nahmen ihn kaum wahr. Ich hörte nicht was er sagte. Ich sah ihn nur an. Sah ihm nach, bis er im Getriebe der Menge verschwand, aus der er hervortrat.

Wer er war. Woher er kam. Wohin er ging. Was er meinte, als er sagte, ich war schon einmal hier. Ich weiß es nicht. Überlasse es der Phantasie des geneigten Lesers.