Irgendwie war unsere Zeit eben unsere Zeit. Nicht, weil man das Leben noch vor sich hatte. Soweit dachten wir gar nicht. Wie waren mehr jetzt als morgen. Glaube ich.
Wir hatten keine Handys und kein Internet. Wie hatten billigen Rotwein und Baccardi. Wir hatten Angst vor Atomkrieg und Tschernobyl. Selbst die Angst war konkreter. Überschaubarer. Berechenbarer. Wir verstanden aus wenig etwas zu machen, das wir dann als Lebensqualität empfanden, ohne das Wort zu kennen. Wir verliebten uns alle paar Woche in ein anderes Mädchen. Alle paar Wochen für immer. Der Feind war das Establishment. War, politisch gesehen, das, was in den täglich Nachrichten zweier Fernsehprogramme über die Bildschirme der Röhrengeräte, Schwarz/Weiß, flimmerte. Nena sang ihren visionären Hit von 99 Luftballons und keiner verlor einen Gedanken daran, dass so was mal von so was kommen kann. Es war irgendwie ... anders. Mancher, Anarchie in sich spürend, sich Gedanken machend, radikalisierte sich. Oder doch nur der Radikalisierung, des offenen Protestes halber? Klaus besetzte Häuser in der Hafenstraßen. Andere machten kaputt, was uns kaputt machte.
Wie anderen waren einfach nur cool, ohne jeden ideologischen Gedanken.
Holger war der erste, der ein Mofa besaß. Morgen war so weit weg. Morgen war bestenfalls die nächste Klassenarbeit. Der nächste blaue Brief an die Eltern, wenn es mal wieder schief ging. Morgen war die nächste Standpauke des Alten, der es gut mit uns meinte und in diesem Meinen gern auch mal zuschlug. In der Öffentlichkeit kursierte der Begriff der Null-Bock.Generation. Jugendarbeitslosigkeit. Perspektivlosigkeit.
Manchem schien der Dienst an der Waffe, der Pflichtwehrdienst bei der Bundeswehr, der rettende Anker vor der gänzlichen Verwahrlosung, um beim Jargon der Alten zu bleiben.
Mobilmachung gegen die Bedrohung aus dem Osten. Gegen den Klassenfeind, aus westlicher Perspektive. Machten wir uns wirklich Gedanken? Wir waren nicht politisch. Wir rissen unsere 15 Monate ab. Mit Spindluder und Maßband an der Stubentür. Wir lernten Händchen an die Mütze halten und den Mund zu halten. Ließen uns scheuchen von bellenden Vorgesetzten, ihrerseits selbst oft genug gescheitert an der zivilen Wirklichkeit, die wir noch vor uns hatten. Übten in Reih und Glied zu marschieren, Waffen reinigen und Schießen. Drei Schuss auf dem Schießstand genügten für den Grundsatz, in diesem Leben keine Waffe mehr in die Hand zu nehmen. Wir taugten nicht zum Patrioten. Wir waren nichts und niemand, im besten Wortsinn. Waren aus Sicht der Vorgesetzten der Grund, an dem dieses Land scheitern würde in seinem entschlossenen Kampf gegen den Bolschewismus, wenn man sich dieser Formulierung auch nicht mehr bediente. Irgendwie fühlte ich mich nicht bedroht.
Ich glaube, wie boten in unserer Unbedarftheit noch keine Projektionsfläche für Hass, für Kampfbereitschaft und erst recht nicht für die ungeheure Disziplin, die man uns durch das Antrainieren sorgfältig gemachter Betten vermitteln wollte. Trugen in uns keine hündisch devote Bereitschaft, diese unter gewissen Umständen jeder Zeit abrufen zu können. Sahen im Dienst in der Armee nicht die Glückseligkeit, die man heute in den Gesichtern derer lesen kann, die von den großformatigen Werbeplakaten mit mörderischen Waffen in der Hand keinen anderen Sinn im Leben zu sehen scheinen, als für dieses Land wieder in den Krieg zu ziehen.
Wie wollten einfach nur leben.
Mit dem Mofa oder dem ersten Opel Manta, auf dem Beifahrerseite die blonde Perle, den Tag unser sein lassen. Wie waren die goldenen Reiter auf dem Weg in die Nervenklinik vor den Toren der Stadt. Der Zukunft.
Heute schauen wir aus der Perspektive unserer eigenen Erinnerungen auf die Jugend und gelangen zu der Erkenntnis, dass es etwas Tröstliches in sich birgt, nur noch über einen verhältnismäßig überschaubaren Rest an Lebenszeit zu verfügen.